Ambler-Warnung
das sein Taschenrechner prophezeit?«, spottete Ambler kopfschüttelnd. »Aber er hat leider recht.«
»Ich will dich nicht verlieren, Hal.« Sie schloss einen Moment die Augen. »Ich darf dich nicht verlieren«, sagte sie lauter, als sie beabsichtigt hatte.
»Oh Gott, Laurel«, flüsterte er. »Ich will dich auch nicht verlieren. Aber ich habe das seltsame Gefühl ...«, er schüttelte hilflos den Kopf, denn es gab Dinge, die er nicht in Worte
fassen konnte. Er konnte nicht hoffen, dass jemand ihn verstehen würde. Bis vor Kurzem war sein Leben für ihn wertlos gewesen. Er hatte das nie so gesehen und erkannte erst jetzt, dass es so gewesen war. Weil es nicht länger wertlos war. Weil es jetzt etwas von unschätzbarem Wert enthielt. Es enthielt Laurel.
Laurel war der Grund dafür, dass er hier war. Laurel gab ihm die Kraft, zu tun, was getan werden musste. Er konnte nicht untertauchen, in einer südamerikanischen Megalopolis verschwinden und ein anonymes Leben führen, während sich die Weltmächte gegenseitig zerfleischten. Denn eine Welt, in der es Laurel gab, bedeutete ihm plötzlich unendlich viel. Ambler konnte diese Gedanken nicht aussprechen. Er sah sie nur eine Weile unverwandt an. Beide sammelten Kraft für das, was vor ihnen lag.
Man darf nicht daran zweifeln, dass eine kleine Gruppe Bürger durch Klugheit und Einsatz die Welt verändern kann. Denn nur solchen Gruppen ist es im Lauf der Geschkhte jemals gelungen.
Die Worte hinterließen einen bitteren Geschmack auf seiner Zunge. Er wollte sich gar nicht vorstellen, in welchen Aufruhr die Welt geraten würde, wenn Palmers teuflischer Plan gelang.
Ambler ging zum Fenster und betrachtete den niedrigen Gebäudekomplex des Kongresszentrums auf der anderen Straßenseite. Überall standen Grüppchen von Militärpolizisten in mitternachtsblauen Uniformen – blaue Reißverschlusshosen, blaue Bomberjacken, blaue Wollmützen –, die nur durch einen türkisfarbenen Streifen an ihren hochgeklappten Kragen aufgelockert wurden. Ihre hohen Schnürstiefel waren glänzend schwarz. Wenn sie dicht beieinanderstanden, sah es aus, als sei die Nacht bereits angebrochen. Die
hohen Stahlrohrzäune, die halb im Schnee versunken waren, schleusten die Besucher zu den präzise ausgeschilderten Ein-und Ausgängen. Ambler hatte schon Hochsicherheitsgefängnisse gesehen, die einladender gewirkt hatten.
»Vielleicht hat Caston eine Idee, wie wir dich einschleusen können«, sagte Laurel. »Mich hat er schließlich auch reingekriegt.«
»Wie bitte? Dich?«, fragte Ambler bass erstaunt.
Sie nickte. »Er kam auf den Gedanken, dass ich technisch gesehen zum Geheimdienst gehöre. Höchste Sicherheitsstufe. Die Organisation des Wirtschaftsgipfels konnte sich das offiziell bestätigen lassen. Auf Parrish Island fallen sogar die Gärtner unter diese Stufe – das ist in einer solchen Einrichtung nun mal vorgeschrieben –, aber woher sollten die das wissen? Der Zahlencode, der im Dienstausweis hinter deinem Namen steht, enthält diese Informationen. Und Caston kennt sich im System unheimlich gut aus.«
»Wo steckt er eigentlich?«
»Er müsste gleich kommen«, sagte Laurel. »Ich bin ein bisschen früher los.« Sie musste nicht erklären, warum. »Aber vielleicht ist er auf eine seiner berühmten >Anomalien< gestoßen.«
»Caston ist ein toller Kerl, aber er ist ein Analyst, ein Zahlenzauberer. Wir haben es hier mit Menschen zu tun, nicht mit den elektronischen Kondensstreifen, die sie hinter sich herziehen.«
Jemand klopfte dreimal an der Tür. Laurel erkannte das verabredete Zeichen und ließ Clayton Caston ins Zimmer. Sein beigefarbener Regenmantel trug Epauletten aus Schnee, die langsam schmolzen und ihm die Brust hinunterliefen. Caston wirkte völlig erschöpft und noch teigiger als sonst. Er hielt eine schwarze Leinentasche in der Hand, auf die das Logo
des Weltwirtschaftsforums aufgedruckt war. Er sah Ambler ohne einen Hauch von Überraschung an.
»Was entdeckt?«, fragte Ambler ohne Umschweife.
»Nicht viel«, sagte der Revisor nüchtern. »Ich war anderthalb Stunden im Kongresszentrum. Wie gesagt, ich war schon mal hier, um einen Vortrag über Offshore-Banking und internationale Geldwäsche zu halten. Neben den Promi-Veranstaltungen finden hier nämlich auch Seminare mit Substanz statt. Heute bin ich einfach nur herumgewandert und habe bei ein paar Vorträgen reingeschaut. Ich sollte mir ein Schild umhängen, und zwar mit der Aufschrift: >Fragen Sie mich, wenn Sie
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