Ambler-Warnung
gegenüber. Das riesige Hotel war in einem
ehemaligen Sanatoriumsgebäude aus dem Jahr 1875 untergebracht. Die rosarote Fassade war von schmalen Bogenfenstern durchbrochen, die wie die Schießscharten einer allzeit abwehrbereiten Burg aussahen. Aber auf dem jährlichen Wirtschaftsgipfel fanden die einzigen sichtbaren Kämpfe zwischen den verschiedenen Sponsoren der Konferenz statt. Über dem Vordach des Hotels hing ein riesiges, blau-weißes Banner von KPMG-Consulting, das mit einer Werbetafel für einen Shuttle-Service von Audi wetteiferte. Amblers Pulsschlag beschleunigte sich, als er auf den Eingang zuging. Auf dem runden Vorplatz des Hotels standen neben den üblichen Luxuskarossen Militärtransporter und ein Geländewagen mit großen Reifen und einem rechteckigen Blaulicht auf dem Dach. Über die Wagenseite zog sich ein neonroter Streifen, auf dem in weißen Buchstaben MILITÄRPOLIZEI stand. Die gegenüberliegende Straßenseite war mit einem drei Meter hohen Zaun mit scharfen Spitzen abgesperrt. Durch die Stahlrohre war ein pastellfarbenes Banner gezogen, auf dem die Worte »draußen bleiben« in den drei Hauptsprachen der Schweiz standen: SPERRZONE, ZONE INTERDIT, ZONA SBARRATA.
Er wusste von einer Voicemail, die er auf der Fahrt abgehört hatte, dass es Caston gelungen war, eine offizielle Einladung zur Konferenz zu ergattern: Er hatte seinen Einfluss als hochrangiger CIA-Beamter genutzt und sich auf die Gästeliste setzen lassen. Für Ambler war das jedoch unmöglich. Caston hatte bisher noch nichts herausgefunden. Aber dafür brauchte man auch keine Rechenkunst, sondern geschulte, wache Sinneswahrnehmung.
Oder vielleicht ein Wunder.
Im Vestibül des Belvedere lag ein großer Sisalläufer, auf dem die Gäste sich den Schnee von den Schuhen klopfen
konnten. Hinter den Doppeltüren machte der Sisal einem eleganten Wilton-Teppich mit einem dezenten Blumenmuster Platz. Nach einem kurzen Rundgang durch die verschiedenen Aufenthaltsbereiche wusste Ambler, dass alle Lounges ineinander übergingen. Der Essbereich war mit einem roten Seil abgesperrt, dessen Stützpfosten ornamentale Ananas aus Messing schmückten. Ambler kehrte zu einem Sitzbereich in der Nähe der Rezeption zurück, von dem aus er diskret die Gäste beobachten konnte, die im Hotel ein und aus gingen. Er nahm in einem dick gepolsterten Ledersessel Platz. Die Wände waren bis in Hüfthöhe mit Mahagoni vertäfelt und darüber mit burgunderrotem, schwarz gestreiftem Seidenstoff bezogen. Mit Blattgold geschmückte Arkaden schienen die Decke zu stützen. Er betrachtete kurz sein Spiegelbild in dem großen Spiegel an der gegenüberliegenden Wand. Zufrieden stellte er fest, dass er in dem teuer wirkenden, anthrazitfarbenen Nadelstreifenanzug, den er jetzt trug, genau den richtigen Eindruck machte. Man würde ihn für einen der vielen Geschäftsleute halten, die – weil sie weniger illuster waren als die Teilnehmer – horrende Summen für die Teilnahme an der Konferenz bezahlen mussten. Falls man ihre Anmeldung überhaupt akzeptierte. In der exklusiven Welt des Weltwirtschaftsgipfels wurden zahlende Gäste mit der gleichen Herablassung behandelt, mit der ein armer Stipendiat in einem Nobelinternat zu rechnen hatte. Zu Hause durften sich diese Männer – beispielsweise mittelständische Unternehmer und Bürgermeister mittelgroßer Städte – einbilden, sie beherrschten das Universum. Aber in Davos wurden sie zu Handlangern degradiert.
Ambler bestellte bei einem gehetzten, aber freundlichen Kellner einen Kaffee und blätterte in den Wirtschaftszeitschriften, die auf dem Beistelltisch neben ihm lagen: Financial
Times, The Wall Street, Journal, Forbes, Far Eastern Economic Review, Newsweek International und The Economist. Er griff nach dem Economist und spürte einen leichten Stich, als er das Titelblatt betrachtete. Unter der Überschrift Die Volksrepublik China wird wieder dem Volk anvertraut strahlte das fröhliche Gesicht Liu Angs.
Er überflog die Titelstory. Nur die fett gedruckten Unterüberschriften sah er sich genauer an. Die Meeresschildkröte kehrt heim, las er. Und Wie groß ist der Einfluss der USA? Regelmäßig blickte er von der Zeitung auf und beobachtete die Hotelgäste. Es dauerte nicht lange, bis er einen geeigneten Kandidaten fand: einen Engländer Anfang vierzig mit ergrauenden blonden Haaren. Ein Banker, dem breiten Revers und der fein gemusterten gelben Krawatte nach zu urteilen. Er hatte das Hotel gerade betreten und sah aus,
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