Ambler-Warnung
Schwachstellen auf, die sich aus menschlicher Nachlässigkeit oder Willkür ergaben. Täglich durchgeführte Praktiken verlangten nun mal ein gewisses Maß an Flexibilität. Aber der jährliche Weltwirtschaftsgipfel von Davos war kein alltägliches Ereignis. Er war ein besonderes Event, das nur eine Woche dauerte. Hier war es möglich, alle Regeln strikt zu befolgen. Die Sicherheitsbeamten hatten gar keine Zeit, in eine Routine zu verfallen und nachlässig zu werden.
Amblers Blick fiel auf die schwarze Jutetasche, die Caston mitgebracht hatte. Sie enthielt alle Materialien, die den Gästen beim Einchecken ausgehändigt wurden. Er leerte den Inhalt auf dem Bett aus. Eine Spezialausgabe der Zeitschrift Global Agenda, speziell für diesen Anlass gedruckt; ein weißer
Ringordner, in dem alle Veranstaltungen aufgelistet waren. Ambler blätterte darin. Die Seiten waren mit Vorträgen und Seminaren gefüllt, die so beeindruckende Titel wie »Quo vadis, Wasser-Management?«, »Die Sicherheit globaler Gesundheitssysteme«, »Die Zukunft der US-Außenpolitik« oder »Bürgerrechte und Nationale Sicherheit: Verbündete oder Gegner?« trugen. Auch wichtige Termine, wie die Rede des UNO-Generalsekretärs, des Vizepräsidenten der USA, des Präsidenten von Pakistan und die Ansprachen weiterer Würdenträger, waren hier aufgelistet. Liu Angs darauffolgende Rede war offenbar der Höhepunkt der illustren Veranstaltung.
Ambler legte den Ordner weg und griff nach einem kleinen, dicken, beinahe würfelförmigen Buch, in dem alle Teilnehmer des diesjährigen Gipfeltreffens aufgelistet waren. Beinahe fünfzehnhundert Seiten mit Fotos und beruflichen Laufbahnen in kleiner Schrift.
»So viele berühmte Gesichter«, sagte Ambler. Er ließ den dicken Packen wie ein Daumenkino ablaufen.
»Würde eine verdammt gute Verbrecherdatei abgeben«, sagte Laurel. Die allgemeine Frustration erfüllte den Raum wie ein schlechter Geruch.
Plötzlich setzte sich Caston kerzengerade aus. »Eine Verbrecherdatei«, wiederholte er.
Ambler sah ihn an. Der Ausdruck in Castons Augen jagte ihm beinahe Angst ein. Sie glitzerten in einem beinahe irren Licht. »Worauf wollen Sie hinaus?«, fragte er leise.
»Sie sollten verboten werden«, sagte Caston. »Polizeiliche Gegenüberstellungen, meine ich. Man bedient sich aus der Verbrecherdatei. Und das führt zu einer Menge ungerechtfertigter Verhaftungen. Die Fehlerquote ist untragbar.«
»Sie sind völlig übermüdet«, sagte Laurel schnell. Ängstlich
drehte sie sich zu Ambler um. »Er hat im Zug überhaupt nicht geschlafen.«
»Lass ihn reden«, sagte Ambler sanft.
»Weil Augenzeugen extrem unzuverlässig sind. Sie haben jemand bei einer Straftat beobachtet und glauben, dass einer der Typen, die ihnen vorgeführt werden, der Schuldige sei. Also schauen sie sich die Aufstellung an – und folgen einer ganz bestimmten Heuristik. Sie zeigen auf den, der dem Typen, den sie gesehen haben, am ähnlichsten sieht.«
»Und wo liegt das Problem?« Laurel klang verwirrt.
»Weil Ähnlichkeit noch nicht bedeutet, dass es auch der Richtige ist. Sie sagen >Nummer vier< oder >Nummer zwei<, und manchmal ist das ein Polizist oder ein anderer Statist, und sie richten keinen Schaden an. Die Polizei bedankt sich und schickt den Zeugen heim. Aber manchmal ist der Typ auch ein Verdächtiger. Nicht der Täter, aber ein Tatverdächtiger. Er sieht dem Typen, den der Zeuge gesehen hat, ähnlicher als die anderen, ist aber nicht der Täter. Aber plötzlich schwört ein Augenzeuge, dass er das Verbrechen begangen hat. Vor Gericht kommt es dann zu Szenen wie: >Können Sie auf den Mann zeigen, den Sie an jenem Abend gesehen haben? < Eine Scharade, aber die Jury hält den Fall für sonnenklar. Es gibt aber eine Möglichkeit, Augenzeugen zu befragen, ohne die Ergebnisse derartig zu verzerren. Die Gegenüberstellung muss seriell erfolgen. Man legt ihnen nacheinander Fotos von Verdächtigen vor und fragt: >War dies der Mann, den sie gesehen haben? Ja oder Nein?< Bei der seriellen Methode sinkt die Fehlerquote von sieben Prozent auf unter ein Prozent. Es ist empörend, dass unser Rechtssystem diese einfachen Grundregeln immer noch ignoriert.«
Er sah auf, plötzlich voll konzentriert. »Worauf ich hinauswill: Manchmal reicht Ähnlichkeit aus, um andere zu täuschen.
« Er blinzelte ein paarmal schnell. »Die Statistiken sind eindeutig. Wir suchen einfach den Teilnehmer, der Ihnen am ähnlichsten sieht. Fünfzehnhundert Teilnehmer sind ein
Weitere Kostenlose Bücher