Ambler-Warnung
als ärgere er sich über sich selbst. Wahrscheinlich hatte er etwas Wichtiges in seinem Zimmer vergessen. Seine runden Wangen waren von der Kälte gerötet, an seinem schwarzen Kaschmirmantel hafteten Schneeflocken.
Ambler ließ ein paar Franken neben seiner Kaffeetasse liegen und stand eilig auf. Er holte den Geschäftsmann ein, als dieser gerade einen Aufzug betrat. Ambler schaffte es gerade noch in die Kabine, bevor die Tür sich schloss. Der Geschäftsmann hatte den vierten Stock gewählt. Ambler drückte denselben Knopf noch einmal, als habe er nicht bemerkt, dass das nicht mehr nötig war. Er warf einen Blick auf den Konferenzausweis des Mannes: Martin Hibbard. Kurze Zeit später folgte Ambler dem Engländer in einen Hotelflur. Er merkte sich die Zimmernummer des Geschäftsmanns, lief aber mit schnellen Schritten weiter und bog am Ende des Flurs um die Ecke. Als Ambler außer Sichtweite war, blieb er stehen und lauschte. Die Tür fiel hinter dem
Engländer ins Schloss und wurde eine halbe Minute später wieder geöffnet. Der Mann kam mit einer ledernen Aktentasche heraus und eilte zum Fahrstuhl zurück. Die Tageszeit und seine Hektik deuteten darauf hin, dass er zu einem Business-Lunch verabredet war, bei dem er die Dokumente in seiner Aktentasche brauchte. Wahrscheinlich würde er dann ins Kongresszentrum zurückkehren, wo die nächsten Veranstaltungen um halb drei Uhr nachmittags begannen. Er würde erst in ein paar Stunden wieder in sein Hotelzimmer zurückkehren.
Ambler ging in die Lobby zurück und schaute sich die Angestellten an, die an der eleganten Rezeption aus Mahagoni und Marmor arbeiteten. Eine Frau Ende zwanzig mit ein bisschen zu viel Lippenstift und Lidschatten schien ihm für seine Zwecke besonders geeignet. Er wollte sein Glück weder bei dem kahl rasierten Mann Mitte vierzig versuchen – obwohl der im Moment frei war – noch bei der älteren Frau mit dem starren Lächeln und dem übermüdeten Blick.
Als die jüngere Frau sich von dem Gast verabschiedete, den sie gerade bedient hatte – einem Afrikaner, der frustriert festgestellt hatte, dass er seine Naira nicht in Schweizer Franken umtauschen konnte –, trat Ambler mit verlegenem Gesichtsausdruck vor.
»Ich bin so ein Schwachkopf«, sagte er. »Das sieht man mir bestimmt an, oder?«
»Wie bitte?« Ihr Englisch war beinahe akzentfrei.
»Ich bin ein Trottel. Ich habe meine Schlüsselkarte im Zimmer vergessen.«
»Kein Problem, Sir«, sagte die Frau freundlich. »Das passiert hier oft.«
»Mir ist so was noch nie passiert. Mein Name ist Marty Hibbard. Offiziell Martin Hibbard.«
»Und Ihre Zimmernummer, Sir?«
»Moment, ich hab’s gleich.« Ambler tat so, als zerbreche er sich den Kopf. »Ah, ja. Vierhundertsiebzehn.«
Die Frau hinter dem Tresen belohnte ihn mit einem strahlenden Lächeln und tippte ein paar Zahlencodes in ihre Tastatur. Sekunden später spuckte die Maschine hinter ihr eine neue Schlüsselkarte aus, die sie ihm reichte. »Ich hoffe, Sie genießen Ihren Aufenthalt bei uns.«
»Das tue ich wirklich«, sagte Ambler. »Und Sie sind ein guter Grund dafür.«
Sie lächelte, dankbar für das seltene Kompliment.
Zimmer 417 war großzügig geschnitten und elegant, in hellen, luftigen Farben gehalten und mit zierlichen Möbeln eingerichtet: einer Kommode im Sheridan-Stil, einem Ohrensessel, einem kleinen Schreibtisch mit passendem Stuhl. Im gesamten Umkreis von Davos und Klosters gab es in der letzten Januarwoche keine freien Zimmer mehr, aber Ambler hatte einen ganz guten Fang gemacht. Der Raum würde für seine Zwecke vollkommen genügen.
Er telefonierte, schaltete alle Lichter aus und zog die dicken Vorhänge zu, die das Tageslicht aussperrten. Dann wartete er.
Zehn Minuten später klopfte es an die Tür. Ambler drückte sich an die Wand direkt neben der Klinke. Das war eine Standardprozedur, die er in der Grundausbildung gelernt hatte. Einem erfahrenen Agenten wie Harrison Ambler war sie in Fleisch und Blut übergegangen.
Falls Harrison Ambler wirklich der war, der er zu sein glaubte.
Eine Wolke schwarzer Furcht stieg in ihm auf wie ein giftiger Rauchschwaden von einer Feuerstelle. Er entriegelte die Tür und öffnete sie einen Spalt.
Das Zimmer war dunkel. Aber er musste nichts sehen. Er
konnte sie riechen – ihr Shampoo, den Weichspüler in ihrer Kleidung, den Honigduft ihrer Haut.
»Hal?« Ihre Stimme war nur ein Flüstern. Sie schloss die Tür hinter sich.
»Ich bin hier«, sagte er leise, um sie
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