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Ambler-Warnung

Ambler-Warnung

Titel: Ambler-Warnung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Ludlum
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Füßen. Das war unmöglich. Hier stand kein Blockhaus. Es gab kein Blockhaus, ja nicht einmal eine Spur davon, dass hier jemals eines gestanden hatte. Der Pflanzenwuchs war nicht im Geringsten beeinträchtigt. Seine Erinnerung daran, wo er das aus einem einzigen Raum bestehende
Blockhaus erbaut hatte, war unauslöschlich ... und trotzdem konnte er nur große Moospolster, Zwergwacholder in dichten Büschen und eine verkümmerte, von Weißwedelhirschen angefressene Eibe sehen, die mindestens zwanzig bis dreißig Jahre alt sein musste. Er machte einen Rundgang um die Lichtung und hielt aufmerksam Ausschau nach dem kleinsten Anzeichen für gegenwärtige oder frühere menschliche Besiedlung. Nichts. Vor ihm lag ein jungfräuliches Stück Land in genau dem Zustand, in dem er es damals gekauft hatte. Schließlich überwältigte ihn seine Ratlosigkeit, und er sank auf dem kalten, bemoosten Boden auf die Knie. Ihm graute allein davor, die Frage zu formulieren, und trotzdem musste er’s tun: Konnte er der eigenen Erinnerung trauen? Die letzten sieben Jahre seines Lebens – am besten fing er mit denen an. Waren seine Erinnerungen real? Oder waren die heutigen Erlebnisse eine Illusion – würde er im nächsten Augenblick aufwachen und sich in seiner weißen Zelle in Abteilung 4W wiederfinden?
    Dann fiel ihm ein, dass er irgendwo einmal gehört hatte, im Traum habe der Mensch keinen Geruchssinn. Wenn das stimmte, dann träumte er nicht. Er konnte alles Mögliche riechen: den See, die subtilen Düfte organischen Zerfalls, verrottendes Laub und Ausscheidungen von Regenwürmern, den schwachen Harzgeruch der Nadelbäume. Nein, dies war – Gott steh ihm bei – kein Traum.
    Und genau das machte es zu einem Albtraum.
    Er rappelte sich auf und stieß einen halblauten kehligen Schrei voller Zorn und Frustration aus. Er hatte den Ruhepol seiner Seele erreicht, doch ihn gab es nicht mehr. Ein Gefangener konnte wenigstens hoffen, flüchten zu können; ein Folteropfer – das wusste er aus eigener Erfahrung – konnte wenigstens auf eine Unterbrechung der Qual hoffen. Aber
welche Hoffnung hatte ein Wesen noch, das seine letzte Zuflucht eingebüßt hatte?
    Alles hier war ihm vertraut und fremd zugleich. Das war so unerträglich. Er begann auf und ab zu gehen, lauschte auf die Stimmen und die Rufe von Wintervögeln. Dann hörte er ein andersartiges leises Pfeifen und spürte einen Stich – eine Kombination aus Schmerz und dem Gefühl, einen Schlag erhalten zu haben – knapp unterhalb der Kehle.
    Die Zeit schien langsamer zu laufen. Seine Rechte griff nach der Stelle, ertastete etwas, das aus seinem Körper ragte, und riss es heraus. Das Ding war ein langer bleistiftdünner Pfeil, der sein Brustbein dicht unter der Kehle getroffen hatte. Er war dort stecken geblieben wie ein gegen einen Baumstamm geworfenes Messer.
    Der kräftig ausgebildete oberste Teil des Brustbeins hatte einen lateinischen Namen, an den Ambler sich aus seiner Ausbildung erinnerte: Manubrium. Diese von einem starken Knochen geschützte Stelle war im Nahkampf kein geeignetes Körperziel. Was andererseits vielleicht bedeutete, dass er verdammtes Glück gehabt hatte. Er verschwand mit einem Hechtsprung unter den tief herabhängenden Zweigen einer Hemlocktanne, verließ sich darauf, dass er dort vorerst unsichtbar war, und untersuchte das Metallprojektil.
    Es war kein Pfeil, sondern ein mit kleinen Widerhaken versehener Injektionspfeil aus Edelstahl und Kunststoff. Ein kleiner schwarzer Schriftzug auf dem Glasbehälter identifizierte seinen Inhalt als Carfentanyl – ein synthetisches Opioid, das zehntausendmal stärker als Morphium war. Mit nur zehn Milligramm ließ sich ein sechs Tonnen schwerer Elefant betäuben; die bei Menschen wirksame Dosis wurde in Mikrogramm bemessen. Das Brustbein lag so dicht unter der Haut, dass die Widerhaken sich nicht in seinem
Fleisch hatten verankern können. Aber was war mit dem Inhalt des Glasbehälters? Er war leer, aber das verriet Ambler nicht, ob er sich vor oder nach dem Herausreißen entleert hatte. Seine Finger glitten nochmals über den harten Knochenkamm in der Brustmitte. Wo der Pfeil ihn getroffen hatte, ertasteten sie eine deutliche Schwellung. Bisher fühlte er sich noch hellwach. Wie lange hatte das Ding in ihm gesteckt? Er hatte sofort reagiert; bis es draußen war, waren bestimmt keine zwei Sekunden vergangen. Trotzdem würde ein winziger Tropfen genügen. Und ein so hochwertiger Injektionspfeil war dafür

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