Ambler-Warnung
dem Hier und Jetzt. Solange er frei war, hatte er eine Chance. Mehr verlangte er gar nicht. Eine Chance.
Eine Chance, den Jäger die Angst spüren zu lassen, die er ausgelöst hatte. Eine Chance, sich an den Mann auf dem Hochsitz anzupirschen.
Die Herausforderung lag darin, sich so klein wie möglich zu machen, während er lautlos und trittsicher durch den Wald schlich. Das würde Fähigkeiten erfordern, die er nur selten nutzte. Ambler richtete sich in dem dichten Unterholz, das ihm Deckung gab, in gebückter Haltung auf, hob langsam ein Bein und schwang Knöchel und Fuß locker nach vorn, wobei das Knie in der bisherigen Stellung verblieb. Die Schuhspitze berührte den Boden und erhöhte sanft ihren Druck, bis feststand, dass kein Zweig unter der Sohle knacken würde. Der Rest des Fußes von den Zehen bis zur Ferse folgte mit glatter, stetiger Bewegung.
Indem er sein Körpergewicht gleichmäßig auf den gesamten Fuß verteilte, maximierte er die Fläche, auf die Druck ausgeübt wurde, und verringerte so den Anpressdruck. Langsam und gleichmäßig, ermahnte er sich, aber langsam und gleichmäßig entsprach nicht seiner üblichen Arbeitsweise. Hätte er nicht Spuren von Carfentanyl im Blut gehabt, hätte er sich vielleicht nicht mehr beherrschen können und wäre losgestürmt.
Schließlich beendete er einen Bogen, der ihn weit an der kränkelnden Ulme vorbei und von hinten zu ihr zurückführte. Als er bis auf zehn Meter an den Baum herangekommen war, fand er eine schmale Schneise durch Brombeergestrüpp, Baumstämme und Äste und sah in die Richtung, in der er den Hochsitz zu finden erwartete.
Aber obwohl der Baum genau wie in seiner Erinnerung aussah, war kein Hochsitz daran angebracht. Es gab keinen Hochsitz, keine Spur eines ehemaligen Hochsitzes. Trotz der Kälte fühlte Ambler einen Angstschauder wie eine Hitzewelle durch seinen Körper laufen. Wenn der Mann mit dem Betäubungsgewehr nicht den alten Hochsitz bezogen hatte ...
Dann kam ein Windstoß, und er hörte das leise, aber deutliche
Geräusch, mit dem sich Holz an Holz rieb. Er wandte sich ihm zu und konnte schließlich ausmachen, woher es kam. Von einem Hochsitz. Von einem anderen Hochsitz – größer, höher und offenbar neuer, am mächtigen Stamm einer alten Platane befestigt. Ambler schlich so leise wie nur möglich darauf zu. Der Fuß des alten Baums war von einem Dickicht aus Multiforarosen umgeben. Hätten sie im Winter mit ihren Blättern nur auch ihre nadelspitzen Dornen verloren! Diese aus Asien eingewanderte Pflanze bildete ein Gestrüpp, das so undurchdringlich war wie ein Hindernis aus Bandstacheldraht. Und ein solches Gestrüpp umgab den Stamm der dreißig Meter hohen Platane.
Ambler spähte durch die Zweige – an den kleinen stacheligen Samenkapseln vorbei, die sich wie schwebende Seeigel vor dem Himmel abhoben – und entdeckte schließlich die Gestalt. Dort oben saß ein großer Mann in einem Tarnanzug. Zum Glück sah er in die entgegengesetzte Richtung. Das bedeutete, dass Amblers Annäherung bisher nicht entdeckt worden war; der Mann mit dem Betäubungsgewehr vermutete ihn weiterhin auf dem zum See hin abfallenden Gelände. Ambler strengte sich an, um ihn in der einsetzenden Abenddämmerung deutlicher zu erkennen. Der Mann hatte ein Autofokusfernglas von Steiner vor den Augen – ebenfalls ein Militärmodell mit reflexarm beschichteten Linsen und wasserdichter grüner Gummiarmierung –, mit dem er das Seeufer aufmerksam und methodisch absuchte.
An seiner rechten Schulter hing an einem Riemen ein Gewehr mit langem Lauf. Das musste das Betäubungsgewehr sein. Aber der Mann hatte auch eine Pistole am Koppel – dem Umriss nach wahrscheinlich eine Beretta M92. Eine bei der U.S. Army eingeführte 9-mm-Pistole, die jedoch in der Regel nur Angehörige von Spezialeinheiten führten.
War der Mann allein?
Vermutlich, denn er hatte kein Funksprechgerät, kein sichtbares Kommunikationsmittel, keinen Ohrhörer, wie zu erwarten gewesen wäre, wenn er zu einem Team gehört hätte. Aber solche Annahmen konnten täuschen.
Ambler sah sich nochmals um. Sein Blick auf den Gewehrschützen wurde zum Teil von einem dicken Ast der alten Platane verdeckt, dessen Rinde gefleckt, aber glatt war. Dieser Ast! Wenn Ambler sich nach links bewegte und senkrecht hochsprang, konnten seine Hände ihn an einer Stelle umfassen, wo er vermutlich stark genug war, um sein Gewicht zu tragen. Der Ast ragte sieben bis acht Meter fast waagrecht vom Stamm
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