Ambler-Warnung
großen Wert auf seine Fähigkeit, seine vereinzelten Gegner bei informellen Besuchen, Spaziergängen durch die Ziergärten oder spontanen Einladungen zum Tee für sich zu gewinnen.
Das Treffen am heutigen Abend war jedoch weder informell noch spontan. Tatsächlich war Ang sogar dazu gedrängt worden, und zwar nicht von seinen Gegnern, sondern von seinen treuesten Verbündeten. Denn es stand nichts Geringeres auf dem Spiel als Angs Überleben und die Zukunft der bevölkerungsreichsten Nation der Welt.
Fünf der sechs Männer, die sich um den schwarzen Lacktisch im zweiten Stock von Angs Residenz versammelt hatten, waren vor Angst wie elektrisiert. Nur der Präsident weigerte sich weiterhin, die Drohungen ernst zu nehmen. Chao las in Angs klarem Blick, dass er sie alle für furchtsame alte Männer hielt. Hier, in der Sicherheit der dicken Granitmauern im Schatten von Huairentang, dem »Palast des allumfassenden Mitgefühls«, begriff Liu Ang offensichtlich nicht, dass er extrem verwundbar war. Sie mussten es ihm begreiflich machen.
Zugegeben, die Geheimdienstberichte waren vage und enthielten bis jetzt noch nichts Konkretes. Kombinierte man aber die Berichte von Chaos Kollegen aus der Abteilung für Innere Sicherheit mit den Berichten aus Chaos eigener Abteilung, verdichteten sich die vagen Schatten zu einer tiefen Schwärze.
Der schmale, leise sprechende Mann zu Liu Angs Rechten tauschte einen Blick mit dem Genossen Chao, bevor er das Wort an den Präsidenten richtete. »Verzeihen Sie mir meine Offenheit, aber was nutzen all Ihre Reformpläne, wenn Sie nicht mehr am Leben sind, um sie durchzusetzen?«, sagte er.
Er war Angs Sicherheitsberater und hatte wie Chao lange Jahre im MSS gearbeitet. Allerdings in der Abteilung für Innere Sicherheit. »Wer gefahrlos schwimmen will, muss die Schnappschildkröten aus dem Teich entfernen. Wer das Wasser klären will, muss das Unkraut vom Koi-Teich abschöpfen. Wer die Blumen im Garten pflücken will, muss den giftigen Efeu ausreißen. Wer ...«
»Wer ein Körnchen Vernunft ernten will, muss die Sense im Metapherndickicht schwingen«, unterbrach ihn Ang mit einem Lächeln. »Aber ich weiß, was Sie mir sagen wollen. Wir haben schon mehrmals darüber gesprochen, und an meiner Haltung hat sich nichts geändert.« In bestimmtem Ton fuhr er fort: »Ich werde mich nicht von Angst lähmen lassen. Und ich weigere mich, allein aufgrund von Verdächtigungen ohne Beweise gegen unliebsame Personen vorzugehen. Wenn ich das täte, wäre ich bald nicht mehr von meinen Feinden zu unterscheiden.«
»Während Sie über Ihre hohen Ideale nachgrübeln, schmieden Ihre Feinde Pläne, um Sie zu vernichten!«, fuhr Chao dazwischen. »Und dann kann man Sie hervorragend voneinander unterscheiden: Jene sind dann nämlich die Sieger, und Sie sind weg vom Fenster!« Er sprach aufbrausend und freimütig. Auf Freimut hatte Ang schon immer bestanden, und das Aufbrausen war eben Teil des Auftritts.
»Zu meinen Gegnern zählen auch Männer und Frauen mit Prinzipien«, sagte Ang, ohne die Stimme zu erheben. »Männer und Frauen, die politische Stabilität schätzen und mich
als eine Bedrohung empfinden. Sobald sie begreifen, dass sie im Unrecht waren, werden sie ihre oppositionelle Haltung ändern.« Hier – und das betonte er immer wieder – arbeitete die Zeit für ihn. Den Streit um die Geschwindigkeit, mit der er die Reformen vorantrieb, konnte er nur gewinnen, wenn er seine Pläne durchsetzte und dann bewies, dass sie das Land nicht ins Chaos gestürzt hatten.
»Sie verwechseln eine Messerstecherei mit einem höflichen Meinungsaustausch!«, konterte Chao. »Es gibt mächtige Männer – sogar im innersten Zirkel des Staatsrats -, die Veränderung für die wahren Gefahr halten. Jegliche Veränderung.« Er musste nicht ausführlicher werden. Alle kannten die Hardliner unter den Funktionären, die jeden Schritt in Richtung Transparenz, Fairness und Effizienz ablehnten, weil sie von deren Abwesenheit profitiert hatten. Diese Funktionäre hatten dafür gesorgt, dass der Name »Palast des allumfassenden Mitgefühls« ein Hohn auf die tatsächlichen Verhältnisse war. Besonders gefährlich waren die Hardliner in den Regierungskomitees – hauptsächlich der Nationalen Volksbefreiungsarmee und dem Ministerium für Staatssicherheit –, die der Ernennung Angs zum Parteivorsitzenden nur widerstrebend und unter der Voraussetzung zugestimmt hatten, dass er sich kontrollieren lassen würde. Offenbar
Weitere Kostenlose Bücher