Ambler-Warnung
gesagt: Wenn ein Esel über Esel redet, dann hört der vernünftige Mann zu.«
»Sie sind kein Esel«, wehrte Liu Ang mit einem schwachen Lächeln ab.
»Und Sie sind kein vernünftiger Mann«, parierte Chao eisig.
Genau wie die anderen, die um den Tisch herumsaßen, hatte er nicht nur sehr früh Angs außergewöhnliches Potenzial erkannt, sondern ihm auch geholfen, es voll auszuschöpfen. Sein Wohlergehen war ihm daher außerordentlich wichtig. In der chinesischen Geschichte hatte es mehrmals Männer wie Ang gegeben, aber keiner hatte so erfolgreich regiert.
Es war sowohl ein Segen als auch ein Fluch, dass die Massen vor den Toren von Zhongnanhai den jugendlichen Präsidenten - mit seinen dreiundvierzig Jahren war er viel jünger als alle Männer, die diesen Posten vor ihm bekleidet hatten, und er wirkte noch jünger, als er war – so sehr liebten. Denn ihre bedingungslose Ergebenheit verstärkte – genau wie die positive Berichterstattung der westlichen Medien – nur das instinktive Misstrauen, das die Hardliner gegen ihn hegten. Doch Angs politische Aktionen allein hätten völlig ausgereicht, um ihren Zorn zu erregen. Nach nur zwei Jahren als Präsident hatte er sich bereits als liberale Kraft etabliert, und so waren zugleich die Ängste und die Hoffnungen seiner Führungskräfte wahr geworden. Ang war ein ungeheuer charismatischer Mann. Aber bei vielen Hardlinern weckte er vor allem Neid und Angst.
Westliche Journalisten erklärten seine Politik gern mit seinem Lebenslauf. Der Tatsache, dass er zu den Demonstranten auf dem Platz des Himmlischen Friedens gehört hatte und als Erster dieser Studenten in die Führungsränge der Partei aufgestiegen war, maßen sie große Bedeutung zu. Sie betonten, dass er als erster chinesischer Staatspräsident im Ausland studiert hatte, und hoben seine zwei Semester Ingenieurswissenschaften am MIT übertrieben stark hervor. Sie äußerten außerdem die Vermutung, dass seine prowestliche Einstellung auf die Freundschaften zurückgehe, die er damals geschlossen habe. Feindselige Genossen fürchteten hingegen, dass diese Zeit sein Urteilsvermögen getrübt haben könnte. Chinesen, die eine Zeit lang im Westen gelebt hatten, trugen den Spitznamen hai gui – was »Meeresschildkröte« bedeutete und gleichzeitig ein Wortspiel über den »Heimkehrer vom Meer« war. Misstrauische Chinesen, denen die kosmopolitische Einstellung der hai gui suspekt war, nannten sich selbst trotzig tu bie, die Landschildkröten. Für viele tu bie war der Kampf gegen den Einfluss der hai gui ein Kampf auf Leben und Tod.
»Verstehen Sie mich nicht falsch«, sagte Ang. »Ich nehme Ihre Befürchtungen sehr ernst.« Er deutete zum Fenster auf eine künstlich angelegte Insel in der sogenannten Südlichen See, die in dieser Jahreszeit nur eine öde, von grellen Lampen beschienene Schneefläche war. »Jeden Tag betrachte ich diesen Ort, an dem mein Vorgänger, der Kaiser Guangxu gefangen gehalten wurde. Er wurde dafür bestraft, dass er die Hundert-Tage-Reform beschlossen hatte. Genau wie ich war auch der entmachtete Kaiser zu gleichen Teilen von Idealismus und Realismus getrieben. Was ihm vor hundert Jahren passiert ist, kann auch mir jederzeit passieren. Ich denke unablässig daran.«
Der legendäre Umschwung hatte sich 1898 ereignet und letztendlich den Weg für die massiven Umstürze des folgenden
Jahrhunderts bereitet. Der Kaiser, den die nationalen Probleme bedrückten, unternahm – inspiriert durch den Rat des großen Wissenschaftlers und Gouverneurs Kang Yu Wei – mutigere Schritte als alle seine Vorgänger. In nur einhundert Tagen wurde eine Reihe von Gesetzen erlassen, die China in einen modernen Verfassungsstaat verwandelt hätten. Aber bald wurden seine eitlen Hoffnungen und ehrgeizigen Pläne zunichtegemacht. Nach nur drei Monaten ließ die Mutter des früheren Kaisers, die von den Gouverneuren unterstützt wurde, ihren Neffen Guangxu auf dem Inselchen in der Südlichen See einsperren und stellte die alte Ordnung wieder her. Verschiedene politische Interessengruppen, allen voran die Mandarine, fanden die Reformen zu bedrohlich und setzten sich schlussendlich durch. Zumindest, bis die kurzsichtig geplante Restauration von revolutionären Kräften überrollt wurde, die eine viel umfassendere und brutalere Umgestaltung brachten als alles, was sich der entmachtete Kaiser und sein Berater erträumt hatten.
»Aber Kang war ein Gelehrter, dem die Unterstützung des Volkes fehlte«, warf
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