Ambler-Warnung
dem Decknamen Henry Nyberg. Tarquins Vorgesetzte hatten erfahren, dass ein Mitglied einer ausländischen Delegation in Wirklichkeit ein Terrorist war. Aber wer war der Maulwurf?
Sie setzten Tarquin als menschlichen Lügendetektor ein und dachten, er werde sicherlich die ganzen vier Tage der Konferenz brauchen, um den Gesuchten zu finden. Tatsächlich brauchte er weniger als eine halbe Stunde. Am ersten Morgen war er durch die Lobby des Kongresszentrums geschlendert und um die Grüppchen von Leuten mit den von der Kongressleitung gestellten blauen Armbändern herumgewandert. Er hatte die Marketingleute beobachtet, die Visitenkarten austauschten; die Unternehmer, die auf der Suche nach potenziellen Investoren waren, und die Manager, die auf eintausend verschiedene Arten rituell umeinander herumtanzten. Die Luft in der Lobby war schwer vom Duft frisch gebackener Brötchen und Kaffees. Tarquin erlaubte auf seinem Weg durch die Lobby seinen Gedanken, ziellos zu wandern. Gelegentlich nickte er, als grüße er jemanden, der gerade außerhalb der Sichtweite seiner Umgebung stand. Eine knappe halbe Stunde später hatte er seine Beute im Visier. Nicht eine, sondern zwei Zielpersonen hatten sich an
eine Bankdelegation aus Dubai angehängt. Was hatte sie verraten? Tarquin machte sich nicht die Mühe, die diskreten Signale, die Angst, die Geducktheit zu analysieren, die sie ausstrahlten. Er sah sie und wusste es. So war es immer. Das war alles. Ein Aufklärungsteam der Political Stabilization Unit verbrachte den Rest des Tages damit, zu bestätigen, was er auf den ersten Blick erkannt hatte. Die beiden jungen Männer waren die Neffen des Bankdirektors. Außerdem hatten sie sich während ihrer Studienzeit in Kairo einer radikalislamistischen Bruderschaft angeschlossen. Diese Organisation hatte sie damit beauftragt, gewisse Industrierohstoffe zu besorgen, die zwar für sich genommen harmlos waren, aber in Kombination mit anderen harmlosen Materialien zur Waffenherstellung genutzt werden konnten.
Ambler erlaubte sich, noch einen Augenblick friedlich auf dem Rücken im Wasser zu liegen. Diese Leute wissen, was ich kann, dachte er. Wie wird das die Gleichung beeinflussen?
»In Kuala Lumpur haben alle Sie gefragt, wie Sie das gemacht haben. Sie sagten, es sei doch offensichtlich gewesen, dass diese Leute Blut und Wasser geschwitzt hätten. Aber nur Sie haben das erkannt, niemand sonst. Außerdem waren die Kerle unglaublich kaltblütig. Die Analysten haben sich die Videoaufzeichnung später genau angesehen. Für jeden außer Ihnen stellten sich die Burschen verdammt geschickt an. Sie wirkten gelangweilt und dienstbeflissen, genau wie sie es beabsichtigt hatten. Aber Sie haben etwas anderes gesehen.«
»Ich habe sie genauso gesehen, wie sie waren.«
»Genau. Und das konnte niemand sonst. Wir haben nie darüber gesprochen, aber das ist eine ganz außergewöhnliche Fähigkeit. Eine wirkliche Gabe.«
»Ich würde sie am liebsten zurückgeben.«
»Warum? Gefällt Ihnen die Farbe nicht?«, schmunzelte Osiris. »Raus mit der Sprache. Hat Ihnen ein Medizinmann irgendwann mal ein Amulett gegeben?«
»Wahrscheinlich sollten Sie das nicht mich fragen«, sagte Ambler ernst. »Ich kann Ihnen nur sagen, was ich vermute. Die meisten Leute sehen nur das, was sie sehen wollen. Sie vereinfachen ihre Eindrücke, sie bestätigen nur ihre eigenen Hypothesen. Ich tue das nicht. Ich kann das nicht. Ich kann das nicht nach Belieben an- oder abstellen.«
»Ich weiß nicht, ob das ein Segen oder ein Fluch ist«, sagte Osiris. »Wahrscheinlich eine Mischung aus beidem. Comme d’habitude. Das Schicksal, zu viel zu wissen.«
»Im Moment habe ich eher ein Problem damit, dass ich zu wenig weiß. Sie wissen ja, wonach ich suche. Erleuchtung.« Und diese Erleuchtung war für ihn überlebenswichtig. Er musste die Wahrheit erfahren, oder sein Unterbewusstsein würde ihn in einen Strudel hinabziehen, aus dem es kein Entrinnen mehr gab.
»Erleuchtung wird Ihnen nur Schritt für Schritt gewährt werden«, sagte Osiris. »Wie gesagt, kann ich Ihnen nur mein Urteil anbieten, wirkliche Informationen habe ich nicht für Sie. Geben Sie mir die relevanten Fakten, dann kann ich Ihnen vielleicht helfen, etwas Licht ins Dunkel zu bringen.«
Ambler sah den Mann an, der immer noch beinahe mühelos Wasser trat. Seine breiten Schultern waren von Tropfen benetzt, sein roter Haarkranz war jedoch trocken geblieben. Die blauen, blinden Augen sahen ihn freundlich, ja sogar
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