Ambler-Warnung
eingeschossen. Momentan war der Mann mit dem Decknamen Tarquin gut sichtbar und ohne Deckung. Lis Schussposition war erstklassig, doch die starken Windböen konnten ein seitliches Driften des Geschosses bewirken.
Aber wer war der Mann neben Tarquin? Joe Li starrte durch seinen Feldstecher und fokussierte ihn auf den rotgesichtigen, stämmig gebauten Mann neben Tarquin.
Handeln oder analysieren? Ein uraltes Dilemma. Wer zu lange überlegte, brachte damit oft sich selbst oder andere in Gefahr. Aber in diesem Fall erschien es Joe Li sinnvoller, erst noch ein paar Informationen einzuholen, bevor er handelte. Diese Entscheidung widersprach seinem Wesen, sein ganzes Bewusstsein schrie dagegen an: Er war geschaffen – ausgewählt und trainiert – worden, um zu handeln. Genosse Chao hatte ihn einmal als menschliche Waffe bezeichnet. Aber spontanes Handeln war selten effektiv. Das richtige Timing
war entscheidend, genau wie die Fähigkeit, sich anzupassen und auf sich verändernde Umstände zu reagieren.
Er löste den Finger aus dem Abzugsbügel des Gewehrs und griff nach einer Digitalkamera. Er fokussierte so lange, bis das Gesicht des rotgesichtigen Mannes deutlich und scharf im Bildmittelpunkt stand. Er würde das Bild zur Analyse schicken.
Joe Li empfand nur selten Angst, aber kurz überfiel ihn eine leichte Besorgnis. Es war durchaus denkbar, dass Liu Angs Feinde einen neuen, mächtigen Verbündeten gefunden hatten.
Er blickte erneut auf sein Gewehr, und seine Besorgnis wuchs von Sekunde zu Sekunde.
Analysieren – oder handeln?
Kapitel dreizehn
Ambler folgte Fenton in das Kongresszentrum. Fentons ganzer Körper schien vor freudiger Erwartung zu vibrieren.
Die Eingangshalle des Palais war ein mehrstöckiges Atrium mit einer Lobby und drei Balkonebenen aus Granit und Glas. Ein Schild – eine charmant altmodische Stecktafel mit weißen Lettern auf schwarzem Plastikgrund – verkündete, wann und wo die einzelnen Veranstaltungen stattfinden würden.
»Es muss jeden Moment so weit sein«, murmelte Fenton. »Gleich werde ich Ihnen beweisen, wozu unsere Organisation fähig ist.«
Aus dem angrenzenden Tagungsraum hörte Ambler, wie Stühle gerückt und unterbrochene Gespräche wieder aufgenommen wurden – offenbar war ein Vortrag gerade zu Ende gegangen. Die Leute standen auf, manche Teilnehmer eilten zu ihren Kollegen, um sich vorzustellen oder in Erinnerung zu bringen. Andere nutzten die Pause, um sich einen Kaffee zu holen oder draußen eine Zigarette zu rauchen.
»Was sagt Ihre Uhr, Tarquin?«
»Elf Uhr neunundfünfzig.« Und eine Sekunde später: »Zwölf Uhr mittags.«
Plötzlich gellten laute Schreie durch das Atrium. Die Gespräche verstummten und wurden durch eine Geräuschkulisse des Entsetzens abgelöst: Oh mein Gott! Oh mein Gott! Oh Gott! Die Schreie wurden lauter, schwollen zu einem Geheul an. Fenton blieb seelenruhig neben der mit Teppich
ausgelegten Treppe stehen und legte Ambler einen Arm um die Schultern.
Schwarz gekleidete Sicherheitsleute bahnten sich einen Weg in den Saal, kurz danach eilten Sanitäter hinterher. Ein Teilnehmer der Tagung war ermordet worden.
Ambler kämpfte seine Emotionen nieder und wendete sich Fenton zu. »Was ist da gerade passiert?«
Fenton sprach kurz in ein Mobiltelefon, dann nickte er. »Der Tote hieß Kurt Sollinger«, sagte er halblaut zu Ambler. »Ein EU-Handelsunterhändler aus Brüssel.«
»Und warum musste er sterben?«
»Unseren Informationen nach ist er – oder vielmehr war er – eine echte Bedrohung für die Welt. Der Kerl hat sich als Student mit ein paar RAF-Versprengten eingelassen und führte seitdem ein Doppelleben. Nach außen hin war er ein Spitzen-Ökonom und ein unheimlich netter Kerl. So kannten ihn jedenfalls seine Kollegen. Aber in Wirklichkeit nutzte er seine EU-Position, um auf der ganzen Welt IBCs, internationale Firmen aufzuziehen, in denen er für Schurkenstaaten Geld wusch und bedeutende Summen an aktive Terrorzellen weiterleitete. Man nannte ihn den Zahlmeister. Er finanzierte Bombenattentate und besonders gern Auftragsmorde.«
»Aber warum hier?«
»Heute ist ein ganz besonderer Tag.« Fentons Blick war eiskalt. »Eine Art Jahrestag. Erinnern Sie sich noch an den Mord an dem stellvertretenden US-Schatzsekretär?«
Ambler nickte langsam. Vor einigen Jahren war in einem Luxushotel in Säo Paolo der stellvertretende Schatzsekretär der USA – der jüngste Professor, der in Harvard jemals Wirtschaft gelehrt hatte; der
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