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Ambra

Ambra

Titel: Ambra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabrina Janesch
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nach dem anderen begeht und sich langsam wünscht, sie hätte sich niemals auf die gemeinsame Unternehmung eingelassen.
    Die Sonne hatte längst alle Feuchtigkeit aus dem Sand gesogen und die grauen Bröckchen in ein beinah weißes Puder verwandelt. Noch waren Sanddornsträucher, Kiefern und Strandhafer mit sich allein. Der örtliche Kiosk hatte, seit der letzte Besitzer gestorben war, mehrere Monate leergestanden. Keine Waffeln mit Sahne, Aprikosenkompott und Schokoladencreme, keine überbackenen Baguettes mit Champignons, Käse und Schnittlauch für die Badegäste; keine sauren Schnüre, Lakritzheringe oder Brausepulver mit Waldmeistergeschmack für die Kleinen; kein Bier mit Sirup und schon gar kein Saft mit Wodka für die Väter – über mehrere Monate hatte der Kiosk nur eines im Angebot: ein verrammeltes Fensterchen. Die Bevölkerung hatte sich schon beinahe an den Mangel strandgemäßer Nahrung gewöhnt, als an einem besonders sonnigen Tag die Holzverkleidungdes Fensterchens zur Seite geschoben wurde und das pausbäckige, gerötete Gesicht Filip Tokarczuks erschien. Sorgfältig fuhr er mit den Fingern die Konturen des Fensterchens ab, drehte sich um, holte einen Lappen hervor und begann schließlich, die gesamte Verkaufsfläche eingehend zu säubern. Tote Marienkäfer und ein paar mumifizierte Bienen und Wespen quetschten sich da in die Ritzen des aufgedunsenen Holzes, einige boshaft gegen die Scheibe gedrückte Kaugummis und jede Menge Sand mussten entfernt werden, außerdem war die ganze Warenladung in die kleine Holzhütte hineinzubefördern. Tokarczuk seufzte. Bald würden die ersten Gäste kommen, immerhin schien die Sonne, und dann mussten Wasserfläschchen (hellblau ohne Kohlensäure, dunkelblau mit), Kaugummistreifen und Fruchtsaftkartons adrett parat stehen. Das mit den Waffeln würde sich später klären, jemanden anstellen würde er, wenn das Geschäft einmal ins Laufen gekommen war, eine kleine Vietnamesin zum Beispiel …
    Gerade, als Tokarczuk begonnen hatte, die Schokoriegel und Wasserflaschen in die Hütte zu tragen, sah er von weitem eine Frau über den Strand hasten. Ihr aufgelöstes rotes Haar wehte über ihrem Kopf wie eine Standarte. Von seiner Zeit als Bademeister im Freibad von Mukszyce wusste Tokarczuk, wie es aussah, wenn Ärger im Verzug war, und hier war Ärger im Verzug.
    Sie wünschen?, fragte er und setzte seine geschäftigste Miene auf, als die Frau am Kiosk ankam und sich schnaufend auf den Tresen lehnte.
    Da hinten –, sie zeigte auf den Strandabschnitt östlich von Tokarczuks Kiosk – da hinten ist ein Verrückter. Das geht doch nicht! Wir sind mit den Kindern da, was meinen Sie, wie die sich erschrocken haben! UnternehmenSie was! Tokarczuk versuchte sie zu beruhigen und aus ihr herauszubekommen, was denn eigentlich geschehen war, aber sie sagte nur, dass es jeder Beschreibung spotte, und zog Tokarczuk mit sich fort.
     
    Vom Kiosk aus hatte die Düne gar nicht so hoch ausgesehen, sogar der Anstieg der kleinen Schneise, die hindurchführte, brachte Tokarczuk zum Schwitzen, und dann diese Sonne … Er nahm sich vor, im Sommer nur in absoluten Notfällen seinen Kiosk zu verlassen, und ob das hier ein wirklicher Notfall war, das musste sich erst noch erweisen. Ein Verrückter! Er erinnerte sich an den Tag im Schwimmbad von Mukszyce, als ein älterer Herr auf den Dreimeterturm gestiegen war, ins Becken gepinkelt und dabei
Lang lebe Che
geschrien hatte. Alle Augen der Schwimmbadbesucher waren zu ihm, Tokarczuk, gewandert, und man hatte darauf gewartet, was er nun unternehme,
dass
er nun etwas unternehme, und genau wie jetzt hatte er angefangen zu schwitzen. Als er endlich auf den Dreimeterturm geklettert war, um den Mann zur Rede zu stellen und mit nach unten zu nehmen, war der Alte gesprungen und nicht wieder aufgetaucht.
    Tokarczuks Hände wurden feucht, als nach ein paar hundert Metern, ganz in der Nähe der Uferböschung, ein dunkler, breiter Rücken sichtbar wurde, eine schwarze Windjacke war das, von jemandem getragen, dessen Kampfgewicht sicherlich weit über dem Tokarczuks lag.
    Die Frau war bei ihrer Freundin und den drei Kleinkindern stehen geblieben, die mit ihren Gummistiefeln im Wasser spielten. Tokarczuk drehte sich kurz zu den Frauen um, die ihm aber nur zuwinkten, er solle endlichnäher herangehen. Er kniff die Augen zusammen: Noch immer war nicht erkennbar, was der Mann da eigentlich trieb, er schien bloß dazuhocken und auf den Sand zu starren. Aber da

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