Ameisenroman
rasch entwickelnde Affäre mit JoLane, und er fand sein Leben so vollständig und ausgeglichen wie noch nie. Manchmal ließ er sich sogar zu der Vorstellung hinreißen, wie es wäre, alles hinzuschmeißen und zum Harvard-Gammler zu werden. Umsonst Vorlesungen hören, sich bei großen Vorträgen und Top-Ereignissen in eine der letzten Reihen schieben. Sich bei Empfängen selbst einladen und Getränke und Häppchen schnorren, vielleicht sogar im Faculty Club, wenn in dem überfüllten Raum genügend Studenten waren. Sich mit irgendwelchen Jobs über Wasser halten. Eine ständige Beziehung pflegen, vielleicht mit JoLane. Mit struppigem Bart und Pferdeschwanz auf die vierzig zugehen. Sich als einer der halbprofessionellen Schachspieler auf den Harvard Square setzen («Schach gegen Experten, 5 $»). Sich genügend klassische Schachzüge einprägen, um die Amateure matt zu setzen und am Abend in einem guten Restaurant irgendwo hinter dem Square zu essen. Aber das alles war nur ein Hirngespinst. Raphael Semmes Cody stand seinen Mann.
Raffs und JoLanes Interessen überschnitten sich in weiten Teilen, aber der Unterschied ihrer Temperamente stand zwischen ihnen. Unangenehm wurde das vor allem bei ihrem zentralen Thema, dem Umweltaktivismus. JoLane wollte einen Draufgänger, der rücksichtslos alles niederwalzte, und sie lechzte nach einer Revolution. Ihrebevorzugte Strategie bestand in der Bombardierung mit Propaganda, gefolgt von einem Frontalangriff mit öffentlichen Protestveranstaltungen und Aufständen. Mit Raffs vorsichtigem, gesetzestreuem Ansatz konnte sie nichts anfangen.
JoLane versuchte, der Spannung zwischen ihnen aus dem Weg zu gehen. In ihren Gesprächen äußerten deshalb beide ihre Meinungen nicht mehr mit derselben Ungezwungenheit wie anfangs. Häufig milderten sie ihren Standpunkt ab und gingen manchen Themen ganz aus dem Weg, dem Rassismus etwa und der Wirtschaft. Raff befürchtete, ihre Beziehung könnte unter manchen ihrer Gespräche leiden und der Sex würde dann weniger spontan sein als zu Zeiten, in denen sie fast noch Fremde gewesen waren.
Eines Abends schließlich, als er über Methoden des Konfliktmanagements und der Mediation sprach, explodierte sie.
«Die Bauhaie sind zu mächtig, Raff! Du
kannst
mit diesen Leuten keine Kompromisse machen. Sie haben das Geld, sie haben die Politiker, und nicht nur das, sie sagen auch noch gerne, dass sie das Beste für das Land wollen. Und wenn dann gar nichts mehr hilft, sagen sie dir, es sei der Wille Gottes. Gott als Umweltverwalter, nichts weniger als das. Wie kannst du dich darauf einlassen? Mit denen kann man nicht mithalten, Raff. Vernünftig diskutieren geht nicht. Da rennen sie einen jedes Mal über den Haufen. Das einzig Richtige ist, sie ganz direkt anzugehen, glaub mir. Ich habe da von meinem Vater ein paar Dinge gelernt. Leidenschaft und Mumm, Raff, das brauchst du, und man muss auch mal über Leichen gehen können. So viel Zeit haben wir auch nicht mehr, Raff.»
Er ließ sich nicht gerne so einheizen, als ob hier seine Männlichkeit zur Debatte stünde. «Ich glaube, du willst mich als Strafverteidiger haben, JoLane, damit ich die Leute von der Gaia Force und andere Hardliner aus dem Gefängnis hole. Ich habe aber andere Pläne.»
«Was für Pläne?», fragte sie und wurde plötzlich ganz still.
«Das erzähl ich dir irgendwann, Süße.» Er wollte einfach nicht weiterstreiten.
JoLane war erschüttert. Sie war es nicht gewohnt, mitten in einem rhetorischen Höhenflug einfach unterbrochen zu werden. Aber auch sie ließ es dabei bewenden.
Mehr hatte Raff nicht zu bieten. An aggressive Polemik war er nicht gewöhnt, und die Vorstellung von einem Öko-Krieg stieß ihn ab. Vor allem konnte er sich nicht mit dem Gedanken abfinden, das Gesetz zu brechen. Nicht, dass er sich nicht getraut hätte. Aber er begriff, wie ernst und kontraproduktiv die Folgen gewesen wären. Bestimmt wusste JoLane das auch. Nägel in die Stämme von Douglasien zu schlagen, um Kettensägen zu sabotieren – nein danke. Sich vor die Bulldozer zu legen, gerichtliche Verfügungen in Stücke zu reißen, Gefängnis zu riskieren und trotzig in die Fernsehkameras zu schreien, während man aus dem Gerichtssaal geführt wurde – das war nichts für ihn.
Ziviler Ungehorsam und selbst gewaltsamer Widerstand mochten im Einzelfall nötig sein. Den Heldenstatus von Henry David Thoreau und Martin Luther King konnte er nachvollziehen, auch den der sogenannten ‹Minuten-Männer›, die
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