Ameisenroman
wir beide dasselbe. Der Unterschied war nur, dass ich an streng definierte Forschungsprojekte gebunden war, für die ich genügend neues Originalmaterial finden und dokumentieren musste,damit ich in wissenschaftlichen Aufsätzen darüber veröffentlichen konnte. Ich steckte fest in der Routine des professionellen Wissenschaftlers: Ich musste Mittel auftreiben, damit ich genug entdeckte, um mehr Forschungsmittel einzuwerben. Sehr gerne wäre ich in die Kindheit zurückgekehrt und ein wahrer Entdecker gewesen wie Raphael. Wenig von dem, was wir fanden, war für die Wissenschaft wirklich neu, aber für ihn war es Neuland, und er war in einem Zustand stetiger Begeisterung.
«Ich will eine vollständige Karte des Nokobee Tracts anlegen», sagte er. «Und vielleicht auch noch drüben vom Ziebach Forest, und auch da eine Liste von allen Pflanzen- und Tierarten aufstellen. Vielleicht kann ich neue Arten entdecken und Schlangen fotografieren.»
Mir wurde klar, dass mein vormaliges stilles Einverständnis mich bedrohlich eingeholt hatte. Ich konnte nicht meine Versprechen Raff gegenüber brechen und seinen Eltern davon erzählen; dann würde er mir nie wieder vertrauen können. Aber ich konnte auch nicht zulassen, dass ein Zwölfjähriger heimlich und allein durch eine Wildnis wie den Nokobee und den Ziebach National Forest streifte. Nach einem langen inneren Kampf gab ich ihm eine wohlüberlegte Antwort.
«Ich sage deinen Eltern nichts, aber dafür möchte ich, dass du mir ein paar Dinge versprichst. Ich glaube, dir ist nicht klar, wie leicht du in diesen Gegenden verloren gehen könntest. Wenn du einen Unfall hast, kannst du da draußen tagelang verletzt oder sogar tot herumliegen, bis jemand dich findet. Ich möchte, dass du mir versprichst, nie über die Picknickstellen am Trailhead hinaus zu gehen. Und ich will, dass du deinen Eltern jedes Mal sagst, wenn du losziehst, wohin genau du gehst undwann genau du wieder zu Hause bist. Versprichst ... du ... mir das?»
«Okay», sagte Raff.
Seine prompte Antwort erstaunte mich. Ich dachte, er musste geradezu darauf gewartet haben, dass ein Erwachsener seine Pläne guthieß und ein bisschen Ordnung in sein geheimes Leben brachte.
«Raff, und jetzt will ich dir noch ein paar weitere Ratschläge zu all dem geben. Lass dir Zeit. Du bist noch sehr jung. Wahrscheinlich gibt es da draußen neue Arten, ja. Aber mach das alles Schritt für Schritt. Mach dich nach und nach mit Fauna und Flora vertraut. Und vor allem, sei sehr vorsichtig bei allem, was du tust. Lass die Finger von giftigen Schlangen und vom Wasser. Nimm jemanden mit, wenn du kannst, vielleicht deinen Cousin Junior oder einen Schulfreund. Der Nokobee Tract ist ein wunderschöner Ort. Ich will nur, dass du am Leben bleibst, damit du ihn genießen kannst. Ich will, dass du mir das fest versprichst.»
«Yessir. Okay.»
Diesmal kam die Antwort etwas zu prompt. Ich glaubte ihm nur halb. Aber ich hatte getan, was ich konnte, und ließ es dabei bewenden.
11
D er Lake Nokobee war damals eines der am wenigsten erschlossenen Gewässer in der Ebene des Golfs von Mexiko. Er war etwa 490 Hektar groß, lag recht abgelegen, und sein gesamtes Ufer war in Privatbesitz, der der schleichenden Urbanisierung noch entkommen war, nur am Ostufer gab es ein paar Strandhäuschen. Sein Wasser, das von kleinen Zuflüssen und unterirdisch einsickerndem Grundwasser gespeist wurde, war sauber und klar. Im Sonnenlicht konnte man mit etwas Glück Knochenhechte und stachelige Weichschildkröten erkennen, die durch unterirdische Seegrasbüschel hindurch hinter Brassenschwärmen herschwammen. Fünf mittelgroße Alligatoren, die ihre Reviere gut über die Ufer des Lake Nokobee verteilt hatten, sonnten sich am Uferrand. Da ihre Artgenossen aus der jahrhundertelangen Verfolgung genug gelernt hatten, reichte schon das entfernteste Auftauchen eines Menschen, um sie mit heftigem Klatschen ins Wasser und außer Sicht zu treiben. Nach starken Regenfällen streiften abends Aalmolche, eine Art riesige Wassersalamander, durch das abfließende Wasser und suchten nach Flusskrebsen. Sechs Sorten Wasserschlangen, darunter die giftige Mokassinotter, jagten durch die Ufervegetation und das seichte Wasser nach Fröschen und kleinen Fischen. Der Nokobee Tract war ein unberührtes aquatisches Ökosystem, das nochimmer in dem Zustand war wie vielleicht vor fünftausend Jahren.
Am Nordende des Lake Nokobee floss ein seichter Bach durch ein Dickicht aus breitblättrigem
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