Ameisenroman
Rohrkolben und Wasserprimeln. Der namenlose Bach schlängelte sich weiter durch die Schatten, die der artenreiche verbuschte Laubwald an seinen Ufern und die eng verwobenen Laubbaumkronen warfen. Nach diversen Windungen erreichte er schließlich den Chicobee River, einen Zufluss des Perdido River, dessen kräftige, breite Fluten dann südwärts flossen und bis hinunter zur Bucht von Perdido die Grenze zwischen Alabama und Florida bildeten.
Die Uferlinie des Lake Nokobee zählte insgesamt zwölf Ausbuchtungen, wo Bäche ihm zuflossen. Dort standen Wassergräser und Riedgräser und schmale Streifen von Laubholzdickicht. Die breiteste Bucht am Südende des Sees hieß Dead Owl Cove – manche Ältere nannten sie noch Dead Owl Slough, also nicht Bucht, sondern Sumpf. Den selbst für die Südstaaten etwas sonderbaren Namen dieser Bucht hielten die meisten bloß für die Laune eines Kartographen – oder, genauso wahrscheinlich, für einen früh aufgekommenen Druckfehler auf einer Karte, auf der Dale Arle oder auch Dale Errol hätte stehen sollen. Sowohl Arles als auch Errols hatte es im nahen Jepson County, Alabama, gegeben, und zwar schon vor dem Bürgerkrieg, den man hier noch immer häufig einfach «den Krieg» nannte. Dale Arle (oder Errol) war eine geheimnisvolle Gestalt; im späten achtzehnten Jahrhundert hatte er von der Golfküste aus nordwärts im Ruderboot den Auwald des Blackwater River erforscht, der östlich parallel zum Escambia verläuft. Laut mündlicherÜberlieferung – falls es schriftliche Dokumente gegeben haben sollte, wurden sie beim Brand des Gerichtsgebäudes im Jepson County 1883 zerstört – kampierte er eine Weile am Südende des Lake Nokobee. Niemand weiß, was er wollte, falls er wirklich dort war, oder was er dort zu finden hoffte.
Der Dead Owl Cove – jetzt war es jedenfalls zu spät, die Bucht noch anders nennen zu wollen – lag am Ende einer unbefestigten Straße, die aus den Maisfeldern in einen der letzten Altbestände von Sumpfkiefern hineinführte.
Eine der auffälligsten wild lebenden Tierarten an dieser Bucht war eine spezielle Ameisenart, deren Kolonien entlang der Seeufer markante Hügelnester bauten. Diese Art war und ist in der Golfküstenebene weit verbreitet, kommt aber nur an bestimmten Stellen vor. Man konnte sie rund um den Lake Nokobee finden, überall dort, wo Sumpfkiefern standen, ihre höchste Dichte hatten sie am Dead Owl Cove. Der Boden in Ufernähe, eine gut durchlüftete Mischung aus Sand, Lehm und Humus, war ideal für die dort heimischen Pflanzen und Insekten. Da die offen gelegenen Stellen der Sonne gut ausgesetzt waren, konnten die Ameisen dort früh in die sommerliche Aktivitätsphase eintreten, und an warmen, trockenen Tagen heizte die Stelle sich früher auf als andere Standorte.
Diese Ameisenhügel sind für die Geschichte, von der ich berichten will, von besonderer Bedeutung. Im Leben von Raphael Semmes Cody sollten sie eine ganz wesentliche Rolle spielen, und letztlich sogar bei der Frage um Leben oder Tod der Natur im Nokobee Tract selbst.
Dass das Ufer am Dead Owl Cove so offen war, lag nicht an wiederholten menschlichen Eingriffen. Hier hattees von Natur aus schon immer so ausgesehen. Der Baumbestand an der Bucht war eine Fortsetzung des viel breiteren Sumpfkieferbestands, der sich westlich des Sees hinüber bis zum William Ziebach National Forest erstreckte. Das grasbewachsene Waldland war eher eine Savanne als ein Wald, verstreut fanden sich dort Kiefern unterschiedlichen Alters, die älteren hatten flache Kronen, die jüngsten bildeten Gruppen im Gelände. Zwischen den Kiefern stand büschelweise Drahtschilfgras und ein regelrechter Garten von krautigen Pflanzen – Croton, Präriegras, Wasserdost, Dreigranne, Bärengras, amerikanischer Blumenhartriegel und viele mehr, denen die englischsprachigen Siedler so wunderschöne sprechende Namen gegeben hatten.[ * ] Teichkiefern, myrtenblättrige Stechpalmen, Cyrilla, Tintenbeeren und Sumpfzypressen drängten sich gelegentlich in zeitweise überfluteten Bodenmulden zu sogenannten ‹Domen›. Einem flüchtigen Besucher mag die Kiefersavanne karg erscheinen, biologisch stellt sie aber eines der reichsten botanischen Ökosysteme Nordamerikas dar. Auf einem Hektar Land finden sich nicht weniger als einhundertfünfzig Pflanzenarten, fast alle in der bodennahen Krautschicht. Viele dieser Spezies sind in diesem Lebensraum endemisch; das heißt, sie kommen nirgends sonst auf der Welt vor.
Der Nokobee Tract
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