Ameisenroman
werden wir ja sehen. Ich wette, ich kann mit dem hier durchaus ernsthaft Geld verdienen.
Drei Wochen später rief Jesse Nichols bei Jonathan Semmes an und sagte: «Alles in Ordnung, Mr. Semmes. Er kommt pünktlich, arbeitet tüchtig und scheint den Job zu mögen. Das nimmt wirklich eine Menge Druck von mir.»
Dann fügte er lachend hinzu: «So kann ich hin und wieder auch mal zur Toilette gehen.»
Jonathan reichte diese guten Nachrichten an Cyrus weiter. «Nun, drücken wir die Daumen, Cy. Natürlich hat er seine Grenzen, aber ich glaube, irgendwann können wir ihn vielleicht irgendwo bis ins mittlere Management bekommen. Und Gott dem Allmächtigen sei Dank, Marcia ist in Sicherheit. Elizabeth sagt, sie ist außer sich vor Glück.»
Doch wenn Jonathan und Cyrus gedacht hatten, sie könnten Ainesley zu einer Art kleinkalibrigem Semmes umformen, dann täuschten sie sich.
In der Zeit unmittelbar nach der Hochzeit verbrachte er noch viel Zeit mit seiner jungen Ehefrau, aber nach der Geburt von Raphael fing er an, sich wieder den Vergnügungen seiner Junggesellentage hinzugeben. Berufliches Fortkommen und finanzielle Sicherheit standen bei ihm nicht besonders hoch im Kurs. Einmal pro Woche mit alten Freunden Party zu machen gehörte dagegen zu den Freuden, die für Ainesley Cody das Leben angenehm machten; und genauso auch gelegentliche One-Night-Stands mit Frauen, die er in Kneipen aufriss, bei der Jagd auf alles Erlaubte, was sich regte, oder beim ‹Trash fishing›, wo der Angler einen Haken mit Köder auswarf und sich mit allem begnügte, was anbeißen mochte.Für ihn war die Arbeit ein Teil des Lebens, für den man sich anstrengte und den man erledigen musste, um seine Pflicht treu zu erfüllen, aber nichts, wofür man lebte. Die Anordnungen eines Chefs rechtschaffen zu befolgen, fiel unter seinen Ehrenkodex. Sich zu bemühen, sein eigenes Potenzial auszuschöpfen, fiel nicht darunter.
Als er um die vierzig war, hatte Ainesleys täglicher Zigarettenverbrauch zwei Schachteln pro Tag erreicht. Dazu gesellten sich drei Flaschen Bier und häufig noch ein ordentliches Glas Jack Daniel’s. Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand waren vom Teer gelb verfärbt. Dazu kam noch eine Vorliebe, um niedrige Einsätze zu pokern, und eine Abneigung gegen unnötige körperliche Betätigung, so dass Ainesley inzwischen einen ansehnlichen Bauch vor sich hertrug. Jahr für Jahr wurden seine Aussichten, ein hohes Alter zu erreichen, düsterer. Im Charakter war er ruppiger und reizbarer geworden. Er hatte chronische Bronchitis, hustete oft, und wegen seiner Atemnot hätte er unbedingt einen Arzt konsultieren müssen. Doch Ainesley mochte keine Krankenhäuser und misstraute den Ärzten. Als Marcia das Thema ansprach, dass es womöglich um sein Leben ging, erklärte er: «Ich gehe, wenn Gott der Herr mich ruft.»
10
B ei unseren regelmäßigen Treffs am Lake Nokobee konnte ich den aufgeschnappten Gesprächsfetzen entnehmen, dass Ainesley und Marcia inzwischen so weit waren, dass sie ihre morganatische Ehe kaum mehr aufrechterhalten konnten. Ihr Kampf um Raff hatte diesen zu einem nervösen, unglücklichen Kind gemacht. Mit zwölf gab er nichts mehr auf die alkoholisierten Prahlereien seines Vaters. Er konnte nicht anders, als die relative Ärmlichkeit ihres Lebens in Clayville mit den Privilegien und der Sicherheit der Familie in Marybelle zu vergleichen. Die Besessenheit, mit der seine Mutter ihm den Stammesruhm der Semmes einimpfte, stand in drastischem Widerspruch zu dem Wissen um die Privilegien der Semmes, die ihm versagt blieben. So wies er die Phantasien seiner Mutter immer mehr zurück und holte das Beste aus seiner einfachen Wirklichkeit heraus. Der Stammbaum der Semmes interessierte ihn nicht mehr als die Erbfolge des britischen Königshauses.
Mehr als alles andere fürchtete Raff, dass seine Eltern sich womöglich scheiden lassen könnten. Mehrere seiner Klassenkameraden an der Martin Luther King jr. Grammar School hatten geschiedene Eltern. Sie wirkten in ihrem Verhalten einigermaßen normal, aber von dem, was die Kinder darüber erzählten, wusste er, dass sie durcheinander waren und mit ständigen Konfliktenzurechtkommen mussten, was sie häufig traurig machte. Zwei Elternpaare zu haben, war gang und gäbe, mit einem Gewirr aus Halbgeschwistern und angeheirateten Geschwistern, die hier und dort wohnten, manchmal in anderen Zimmern und anderen Städten hinter verschlossenen Türen herumstritten. Ein Albtraum,
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