Ameisenroman
blickte zu Boden, sein Verstand raste. Er wollte diesen Augenblick festhalten. Von so etwas hatte er immer geträumt. Es hatte Gerüchte in Clayville gegeben, dass der Lake Nokobee und der Nokobee Tract verkauft werden und für ein Siedlungsprojekt genutzt werden könnten. In seinen Tagträumen war er ein Umweltheld. Er war derGouverneur von Alabama, der die Gegend zum Nokobee State Park erklärte. Er war ein reicher Mann, der den gesamten Besitz aufkaufte und festsetzte, dass er für immer in seinem ursprünglichen Zustand bleiben sollte. Er war Präsident der Umweltorganisation The Nature Conservancy, die einen erfolgreichen Kampf um die Rettung des Gebiets führte.
Und nun erlebte er, dass etwas, was einem dieser Träume immerhin nahe kam, soeben Wirklichkeit geworden war.
Also blickte er auf und stieß hervor: «Ich brauche keine Bedenkzeit, Onkel Cyrus. Ich bin dir wirklich dankbar, und ich werde dir alles zurückzahlen. Ich kann im Sommer arbeiten, und vielleicht kann ich auch während der Studienzeit eine Art Nebenjob bekommen.»
Cyrus schüttelte mit einem warmen Lächeln den Kopf. «Ich glaube, du hast mich nicht richtig verstanden, Scooter. Ich habe nicht gesagt, dass ich dir ein Darlehen gebe. Ich habe nichts davon gesagt, dass du mir etwas zurückzahlen sollst. Ich habe gesagt, dass ich dir ein Angebot mache. Du musst mir nicht einen Cent zurückzahlen, nie. Und ich würde das ohnehin nicht zulassen, weil ich möchte, dass du deine ganze Aufmerksamkeit dem Studium und danach deiner Karriere widmest. Ich will, dass du zu dem prima Kerl wirst, der in dir steckt, das weiß ich, und ich möchte, dass du unserer Familie Ehre machst.»
Damit stand er auf, streckte die Schultern und entspannte sie wieder. «Es ist spät. Wie wäre es, wenn du mit deinen Eltern nach Hause fährst, und dann reden wir bald noch einmal über alles? Aber eines will ich noch sagen, ich freue mich wirklich über deinen Entschluss.»Cyrus hatte nicht vor, Raff irgendwelchen Spielraum zu lassen. Sein Plan war eine beschlossene Sache.
Auf der Heimfahrt nach Clayville sagte Ainesley zu Raff: «Gut, dass du das gleich klargemacht hast, Scooter, bevor er sich’s anders überlegt.»
Marcia sagte sanft: «Ainesley, jetzt sei mal still. Das ist das Beste, was Scooter je passiert ist, und dir und mir auch, wenn wir ehrlich sind.»
Marcia konnte ihre Gefühle kaum zügeln. Sie war fast hysterisch glücklich. Die vergangene Stunde bedeutete ihr unendlich viel. Sie merkte, dass es um mehr ging als nur um Raffs Ausbildung. Cyrus hatte die Tür aufgetan und Raff – und damit sie selbst gleich mit – in die Runde der Semmes aus Mobile gebeten. Sie würden weiter dem Milieu ihrer Herkunft angehören.
Ein Stück weiter fuhr der Pickup auf der nächtlichen Straße über eine große Klapperschlange.
Ainesley rief: «Himmel, habt ihr die Riesenschlange da gesehen, die ich gerade überfahren habe?» Auch Ainesley war euphorisch. Seinen Sohn aufs College gebracht, eine Klapperschlange getötet, und das alles am selben Abend.
Keine zehn Minuten später traf der leicht schlingernde Wagen einen streunenden Hund, dessen Körper ins Gras des Straßengrabens geschleudert wurde.
«Himmel noch mal!», rief Ainesley. «Ich glaube echt, heute brechen wir noch den alabamischen Rekord im Tiere-Totfahren.»
Ainesley war betrunken. Er hatte etwas zu sehr dem exotischen Geschmack des Château Gruaud-Larose zugesprochen, den sie in Marybelle getrunken hatten, und Cyrus’ Angebot hatte seinen Rausch noch um eine Stufe gesteigert.
Aber Raff achtete kaum auf Klapperschlangen, Hunde oder die Bemerkungen seiner Eltern. Er starrte auf die Straße vor ihnen im Lichtkegel der Scheinwerfer, die die Dunkelheit durchschnitten. Seine Gedanken hatten sich in die Höhe emporgeschwungen und folgten jetzt dieser geteerten Straße. Er war jetzt anderswo, irgendwo weit weg.
16
A n der Nokobee County Regional High School im Westen von Clayville gab es einige gute, engagierte Lehrer, als Raphael Semmes Cody dort Schüler war, aber sie gehörte nicht zu den führenden Schulen, und das noch nicht einmal in den südlichsten Bezirken von Alabama. Doch selbst mit den relativ geringen Ansprüchen, die an der Nokobee Regional an ihn gestellt wurden, hatte Raff mit seinen Leistungen kaum geglänzt. Er hatte zumeist gute oder befriedigende Noten erhalten, selten ein Sehr gut oder ein Ausreichend. Er wusste, dass er sehr viel besser hätte abschneiden können, aber der gewöhnliche
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