Ameisenroman
Grüßen,
Raphael Semmes Cody
Vielleicht war das ein unschuldiger kleiner Brief, vermutlich aber doch nicht so ganz unschuldig, und wenn, dann diente er einem nachvollziehbaren Zweck. Raff hatte die richtigen Worte gewählt, den richtigen Ton. Erst später erfuhr ich, was mich eigentlich nicht hätte wundern dürfen, dass nämlich der Bewerbungsaufsatz und der Brief von Louise Simmons gegengelesen worden waren, seiner Englischlehrerin an der Highschool, die einen Master an der erziehungswissenschaftlichen Fakultät der FSU abgelegt hatte und großen Wert auf korrekte Grammatik und richtigen Satzbau legte.
Natürlich konnte ich nicht anders, als Raphaels Bewerbung zu befürworten, und das mit Nachdruck. Ich schrieb selbst an das Zulassungskomitee und legte nahe, seine Noten an der Highschool zu ignorieren.
Raphael Semmes Cody,
so versicherte ich,
gehört zugegebenermaßen keiner Sportmannschaft an und treibt auch keinen Sport. Er spielt kein Musikinstrument. Er hat sich nie weiter als zweihundert Meilen von Clayville, Alabama, entfernt. Aber wie wir wissen, galten dieselben Einschränkungen auch für Henry David Thoreau. Wie Thoreau folgt der junge Cody ganz anderenPrinzipien. Wie seine Berichte bei den Pfadfindern zeigen, ist er ehrgeizig und weist ein einzigartiges Engagement auf, und das angesichts von Zielen, die er sich selbst gesteckt hat. Meiner Voraussicht nach wird er unter den zehntausend Studenten, die dieses Jahr an der FSU zugelassen werden, eines Tages einer der Alumni sein, auf den diese Universität absolut stolz sein kann.
Das Ergebnis dieses Übermaßes an Einsatz war, dass Raff im Februar darauf außer sich vor Freude den dicken Brief mit der vorzeitigen Zulassung an die Universität in Händen hielt. Raff wurde zudem aufgefordert, am Honors Program der Florida State University teilzunehmen, in dessen Rahmen besonders begabte Studenten Gelegenheit zu kreativer Forschungsarbeit erhielten.
Marcia und Ainesley freuten sich sehr, dass ihr Sohn nicht weit weg von zu Hause ging. Nur Onkel Cyrus protestierte: «Und warum nicht die University of Alabama, meine eigene Alma Mater?» Doch er ließ sich schnell beschwichtigen. Die FSU war schon in Ordnung, und wichtig war ja vor allem Raffs geplante spätere Zulassung zum Jurastudium. Cyrus war zufrieden, dass er den Semmes aus Mobile wenigstens einen tüchtigen männlichen Erben verschafft hatte.
In der zweiten Septemberwoche begleiteten Ainesley und Marcia Raff im neuesten Modell von Ainesleys rotem Pickup nach Tallahassee und halfen ihm, durch die versammelte Menge von Studenten das Wohnheimzimmer zu finden, das ihm zugewiesen worden war. Raff versprach, regelmäßig nach Hause zu kommen. Wenn sie irgendeines seiner Versprechen für bare Münze nehmen konnten, dann dieses. Schließlich hatten sie als starken Magneten den Nokobee vor der Haustür.
Alicia und ich trafen uns mit den drei Codys zumAbendessen in einem kleinen Straßenrestaurant, die hier häufig Cafés heißen, in Sopchoppy kurz außerhalb von Tallahassee. Wir aßen gemeinsam von dem Büffet mit frittierter Meeräsche, Stielmus und Hushpuppies, diesen Bällchen aus Maismehl und gehackten Zwiebeln. Alle bestellten süßen Eistee beziehungsweise versäumten es, ihn abzulehnen; im wahren Süden bekommt man ungesüßten Tee nämlich nur, wenn man das ausdrücklich sagt. Ainesley sah tapfer von Bier oder Schlimmerem ab. Als es dunkel wurde, sahen wir durch das Fenster, wie die mexikanischen Bulldoggfledermäuse den erleuchteten Parkplatz kreuzten. Sie schlugen geradezu Schneisen durch die versammelten Insektenschwärme und zählten zum Glück auch die Stechmücken zu ihrer Beute. In dieser vollkommen authentischen Südstaaten-Atmosphäre versprach ich Raffs Eltern, ihm zu helfen und ihnen Bescheid zu geben, falls er an der Universität irgendwelche besonderen Probleme haben sollte.
Als Raff neu an der Florida State University war, lag sie noch inmitten eines naturbelassenen, unbebauten Geländes. Und das, obwohl der Campus selbst schon zu einer kleinen Stadt herangewachsen war, mit 40.000 Studierenden, 2500 Lehrkräften und Tausenden weiteren Mitarbeitern. Aus unseren Gesprächen am Nokobee wusste er, dass er vom Zentrum des FSU-Campus nur eine halbe Stunde in eine beliebige Richtung fahren musste, um ausgedehnte natürliche Lebensräume aller Tier- und Pflanzenarten zu finden, die den Südwesten Floridas bewohnen. Es gab die halbfeuchten Sumpfkiefergehölze, Waldebenen mit Sumpfkiefer- und
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