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Ameisenroman

Ameisenroman

Titel: Ameisenroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E. O. Wilson
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ernsthaft mit der Aushöhlung des neuen Nests begonnen. Am Nachmittag war der gereinigte senkrechte Schaft einen Meter tief, und der Bau neuer Seitengänge und Kammern sowie die Reinigung einiger alter waren weit fortgeschritten. Der Lebensraum glich bald einem Schlangenskelett: der Mittelschaft war die Wirbelsäule, und die Seitengänge die Rippen, die nach allen Seiten hin herausragten.
    Am gesamten Auswanderungsprozess von dem sehr aggressiven frühen Rekrutierungsverhalten bis zum Nestbau waren Elitearbeiterinnen führend beteiligt. Wenn nur eine einzige solche Anführerin einen Gang zu graben begann, halfen andere, die in der Nähe waren, ihn weiter vorzutreiben, oder begannen selbst mit dem Graben weiterer Gänge. Die Eliten fanden Nachfolger, und die Arbeit schuf noch mehr gleiche Arbeit, bis das Ziel erreicht war. Die Kolonie brauchte die Eliten, um Aktivitätswechsel zu initiieren und die Nestgefährtinnen dann auch bei der Stange zu halten.
    Als die Schatten der Sumpfkiefern über dem jetzt geschäftigen Zentrum des Woodland-Territoriums immer länger wurden, war der unterirdische Bau so gut wie fertig,und die Umsiedelung begann. Die Kolonie musste sich beeilen. War die Wanderkolonne zwischen dem alten und dem neuen Nest nach Einbruch der Dunkelheit noch unterwegs, wenn gefährliche nachtaktive Räuber aufkamen, so konnten die Woodlander ohne Weiteres vernichtet werden. Als Erstes trugen Arbeiterinnen solche Nestgefährtinnen, die sich bisher geweigert hatten, die Reise zu unternehmen. Faulenzer waren ein Problem für die Kolonie als Ganzes. Ameisenkolonien haben zwar Eliten, die sie anführen, aber sie haben auch Drückeberger, die immer starke Aufmunterung benötigen.
    Alle Transporte fanden nach derselben Methode statt. Das rekrutierende Tier stellte sich der Ameise gegenüber und zog vorsichtig an ihren Kiefern. Durch die Berührung beruhigte sich die Ameise, wurde passiv und ließ sich fester am Kiefer oder an anderen Teilen ihres Körpers packen. Als Nächstes zog die rekrutierte Ameise Beine und Fühler nah an den Körper und nahm mithin dieselbe Stellung ein, in der sie als vollständig reglose Puppe verharrt hatte. So konnte die Transporteurin sie hochheben und sich aufladen. Sie wurde zur trägen Masse, die sich leicht an den neuen Nistplatz tragen ließ.
    Am Höhepunkt der Emigration war die überwiegende Mehrheit der Arbeiterinnen am Transport aller übrigen Koloniemitglieder beteiligt. Die Reihe kam an die Puppen und an die madenförmigen Larven, die eine Transporteurin sanft zwischen den Kiefern hielt. Genauso vorsichtig wurden Haufen von Eiern bewegt, die die Königin kürzlich gelegt hatte und aus denen noch keine Larven geschlüpft waren.
    Schließlich folgte dann die Königin selbst, schwerfällig, vorsichtig, ja schüchtern, beschwert von ihrem vonEiern strotzenden Hinterleib. Eine Leibwache von Brutpflegerinnen schwärmte über und um sie und verbarg ihren Körper vor neugierigen Blicken. Manche führten sie, indem sie sanft an ihren Mandibeln zogen. Sie war zu groß und zu schwer, als dass man sie schnell wie eine Arbeiterin hochheben und tragen konnte, selbst wenn eine Gruppe von Ammen dabei half. Das mühsame Vorankommen der Königin war die kritische Phase im gesamten Umzug der Kolonie. Sah sie ein Vogel oder eine Eidechse und schnappte sich den leckeren Happen, so war die Woodland-Kolonie genauso verloren, wie wenn eine Einheit verfeindeter Ameisen die Leibgarde durchbrach und sie tötete. Diesmal aber, und das war bei den meisten, ohnehin seltenen Umzugsmanövern dieser Ameisenart der Fall, ging alles gut, und sie erreichte ihre neue Heimat gesund und wohlbehalten.
    Inzwischen herrschte in der Sumpfkieferoase schon Dämmerung, aber die Königin und fast ihre gesamte Kolonie hatten sich in dem neuen Nest niedergelassen. Wenige einzelne Tiere strömten noch immer auf den äußerst stark markierten Duftspuren hin und her, bewirkten aber nur noch wenig.
    Die Woodland-Kolonie war im Vergleich zu dem mickrigen Zwerg vom letzten Sommer zu einem Riesen herangewachsen, und bald erreichte sie eine Größe, von der jeder Superorganismus dieser Spezies abgesehen von einer Superkolonie nur träumen konnte. Das Land, das die Götter ihr geschenkt hatten, war so riesig, dass die Kolonie es nicht vollständig ausfüllen konnte. Regelmäßig entfernten sich Kundschafterinnen weiter vom Heimatnest, als es Vertreter aller anderen Kolonien am Dead Owl Cove je getan hatten.
    Es war also unvermeidlich,

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