Ameisenroman
dass zu Beginn des nächsten Frühjahrs die verwegenste Forscherin, eine Eliteameise der Woodlander, auf eine Kundschafterin aus einer anderen Kolonie traf. Noch nie war sie einem Individuum begegnet, das derselben Art angehörte, aber einen anderen Kolonieduft trug. Die beiden Fremden untersuchten einander behutsam, indem sie sich wiederholt mit ihren geruchsempfindlichen Fühlern betasteten. Dann ließen sie voneinander ab und eilten in entgegengesetzter Richtung zu ihren jeweils weit entfernt liegenden Heimatnestern.
In den folgenden Tagen folgten mehr Woodlander der Duftspur, die die erste Kundschafterin gelegt hatte. Auch sie trafen auf Fremde aus dem fernen Nest. Je häufiger es zu diesen Feindberührungen kam, desto mehr und längere Duftspuren wurden gelegt. Dasselbe taten die Fremden. Bald patrouillierte aus beiden Kolonien eine ganze Horde von Arbeiterinnen über das umstrittene Gebiet.
Wie bei früheren Kriegen am Dead Owl Cove versuchten die Kundschafterinnen ihren Gegnern zu imponieren, indem sie sich als Soldatinnen ausgaben. Sie ließen ihr Abdomen anschwellen, streckten ihre Beine durch, um größer zu wirken, und posierten zu demselben Zweck sogar auf kleinen Steinen. Auch echte Soldaten gesellten sich zu den Paraden. Das instinktive Verhaltensmuster eines Turniers, also das Kreisen, Beschnuppern und gegenseitige Betrommeln, hatte sich auch an diesem neuen Ort herausgebildet. Keine der beiden Kolonien würde es zu einem direkten körperlichen Angriff eskalieren lassen. Beide warteten auf Anzeichen der Schwäche bei der Zurschaustellung der gegnerischen Seite.
So kam es zur Einrichtung einer territorialen Grenze, wenngleich daraus nichts Wesentliches folgte. Die Königinder Woodland-Kolonie war jung, die Population der Kolonie lag über dem Durchschnitt, ihr Territorium war reich und produktiv, und es bestand für die Kraft und die Fortdauer der Kolonie keine Bedrohung.
In diesem Sommer zogen die Woodlander auch ihre ersten jungfräulichen Königinnen und Männchen auf. Zur plangemäßen Paarung verließen die Königinnen das Nest. Die begatteten Jungköniginnen flogen dann weit über die Grenzen ihrer Heimatkolonie hinaus in ferne, unbekannte Gegenden. Die Woodland-Kolonie pflanzte sich fort. Sie hatte das Darwin’sche Spiel gewonnen.
Das kollektive Bewusstsein der Woodland-Kolonie konnte die Gründe für ihren ausnehmenden Erfolg nur zum Teil erfassen. Die ältesten Mitglieder erinnerten sich noch an die Todfeinde, die plötzlich verschwunden waren. Sie hatten gelernt, welche Ressourcen das weitläufige Territorium bot, das ihrer Kolonie so plötzlich zur Verfügung stand. Sie und ihre jüngeren Nestgefährtinnen hatten einen Großteil davon erforscht und unterworfen. In ihrem kollektiven Gedächtnis hatten sie Landkarten davon abgespeichert. Hätten sie begriffen, dass es die wandelnden Baumgötter gab, so hätten sie gewiss Vermutungen darüber angestellt, wie diese geheimnisvollen Mächte, die Stürmen und durch Blitzschlag entfachten Bodenbränden in nichts nachstanden, dazu gekommen waren, ihnen einen derartigen Wohlstand zuteilwerden zu lassen.
Und so endete die Ameisenchronik. Eine Folge mehrerer Zyklen war durchlaufen worden. Die Miniatur-Kulturen am Dead Owl Cove waren wieder am Ausgangspunkt angekommen. Das Territorium der ursprünglichen Trailhead-Kolonie hatte zwei Kriege mit vollständigerZerstörung durchgemacht, dann folgte die Katastrophe, die die Ameisengötter ihnen auferlegt hatten. Der Lebensraum, dieses kleine Segment des Nokobee Tracts, war wieder zu dem geworden, was er ganz zu Beginn gewesen war. Alles war Vergangenheit. Nun stand ein neues Hügelnest, das für diese Spezies so typisch war, am ursprünglichen Standort. Passenderweise war es bewohnt nicht etwa von der Superkolonie, sondern von einer Tochterkolonie der Trailheader, seiner ersten Bewohner. Die Elastizität des uralten Sumpfkiefer-Ökosystems war hier auf die Probe gestellt worden, und sie hatte sich als stabil erwiesen.
Die Kette aufeinanderfolgender Zyklen setzte sich fort wie seit Jahrtausenden. Jetzt aber stand ein Wandel bevor. Die Baumstamm-Götter waren plötzlich überall. Sie hatten die Macht, alles zu vernichten, ganz nach Laune, mit einem einzigen Schlag. Zum ersten Mal in der Geschichte des Nokobee stand alles auf dem Spiel: Ameisen, Kolonien, das ganze Ökosystem.
In diesem Winter durchtränkten starke Regenfälle die Sumpkiefersavanne am Nokobee. Dreimal kam und ging der Frost und überzog
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