Ameisenroman
die Kiefer mit so viel Kraft schließen konnten, dass sie das aus Chitin gebaute Exoskelett und die Muskeln der meisten Insektenarten zu durchtrennen vermochten. Der Innenrand beider Kiefer war mit einer Reihe aus acht scharfen Zähnen besetzt. Der vorderste Zahn der Mandibeln war der längste und diente auch als Dolch zum Einstechen auf Gegner sowie als Haken, mit dem sie sie so lange festhalten konnten, bis Verstärkung zur Stelle war. Die beiden Stacheln, die oben vom Kopf bis in die Körpermitte ragten, schützten die schmale Taille der Soldatin davor, im Kampf entzweigeschnitten zu werden.
Das Gehirn einer Soldatin war ganz auf den Kampf ausgelegt. In einer Drüse an der Basis jedes Kiefers speicherte sie Mengen von Alarmpheromonen, die direkt in die Luft gespritzt werden konnten, wenn die Ameise einem Feind begegnete. Im Fall eines Angriffs vermochte eine Soldatin nicht nur, mehr dieser Substanzen zu produzieren als eine normale Arbeiterin, sondern sie reagierte auch stärker auf sie. Nahm sie auch nur eine schwache Spur dieser Chemikalien war, so rannte die Soldatin umher und suchte nach Feinden. Traf sie irgendwo auf eine hohe Konzentration des Alarmsignals, so drehte sie fieberhafte Kreise und warf sich auf alles Fremde, das sich irgendwo bewegte. Tödliche Bedrohungen und übermächtiger Widerstand waren den Soldatinnen einerlei. Sie waren die Kamikaze-Krieger der Kolonie.
Solange die Woodland-Kolonie noch klein war, hatte sie es sich nicht leisten können, Soldatinnen aufzuziehen. Diese Investition hätte zwar die Verteidigungskraft der Kolonie gestärkt und das Risiko einer vollständigen Zerstörung durch einen gefährlichen Gegner gesenkt. Dochfür das Wachstum der Kolonie war es wichtiger, die Arbeiterkaste aufzustocken, und rasches Wachstum war unbedingt nötig. Die Kolonie konnte darauf spekulieren, dass sich in dieser Anfangsphase ihrer Entwicklung kein Feind zeigen würde, aber ihr Wachstum durfte sie nicht aufs Spiel setzen. Je größer die Population von Arbeiterinnen war, die auf Futtersuche und Brutpflege spezialisiert waren, desto schneller wuchs die Kolonie. Und je schneller sie wuchs, desto besser standen die Chancen, einen weiteren Tag zu überleben und dann noch einen, bis sie es sich leisten konnte, einen Teil ihrer Zeit und Energie auf die Produktion von fruchtbaren Weibchen und Männchen zu verwenden, also auf die Gründung neuer Kolonien ihrer Art. Soldatinnen kamen irgendwann auch dazu, aber die Anzahl dieser Militärs wurde streng überwacht. Gab es zu wenige, bestand ein höheres Risiko, dass die Kolonie durch Feinde zerstört wurde – besonders bei Kriegen gegen Kolonien derselben Art. Gab es aber zu viele, so wuchs die Kolonie langsamer. Sie erntete weniger Nahrung aus ihrem Territorium, und auch dann drohte wieder das Scheitern. Eine Kolonie, deren militärische Investitionen aus dem Gleichgewicht geraten waren, konnte sich nicht lange gegen Kolonien derselben Art durchsetzen, deren Investitionsvolumen näher am Optimum von Überleben
und
Wachstum lag. Das richtige Gleichgewicht zwischen Verteidigung und produktiver Arbeit war letztlich eine Frage von Leben und Tod.
Die Woodland-Kolonie leistete sich ihre erste Soldatin, als die Population von Arbeiterinnen etwa zweihundert betrug. An den langen, heißen Sommertagen wuchs die Kolonie rasch. Als die Gesamtpopulation bei tausend lag,stockte sie die Soldatenkaste weiter auf. Im Jahr nach der Katastrophe der Superkolonie erreichte die Population der Woodlander an die zehntausend. Davon waren fünfhundert Soldatinnen, die sich ständig in Bereitschaft hielten. Ihre Gegenwart machte die Kolonie so gut wie unverwundbar gegen Angriffe der Feuerameisen und anderer Feinde, abgesehen von Gürteltieren und den giftmischenden Göttern.
In diesem Sommer standen die früher so kleinlauten Woodlander am Gipfel der für eine Kolonie ihrer Spezies erreichbaren Macht. Sie wohnten am Rand eines unerforschten Ameisenkontinents, den die gottgegebene Auslöschung der Superkolonie leer zurückgelassen hatte. Mit der Ausbreitung ihres Territoriums in einem dezimeterweise anwachsenden Kreis um ihr Nest wuchs bei der Kolonie auch die kollektive Intelligenz. Am geistigen Leben der Kolonie hatten nicht alle Arbeiterinnen gleichermaßen Anteil. Das Wissen und Denken jeder einzelnen Arbeiterin war nur ein Teil dessen, was die Kolonie insgesamt wusste und dachte. Die Intelligenz der Kolonie war auf ihre Mitglieder verteilt, so wie die menschliche
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