Amelia Peabody 01: Im Schatten des Todes
– vor Verblüffung. Lange stand die Erscheinung bewegungslos da, bis sie schließlich in einer drohenden Geste den Arm hob.
Da setzte ich mich auf, griff nach dem Ding und schrie. An Erscheinungen glaube ich nämlich nicht, deshalb wollte ich das Ding packen. Leider vergaß ich darüber das Moskitonetz, und der verehrte Leser möge verzeihen, daß eine Dame an den Ausdruck ›verdammt‹ dachte, weil mir kein stärkerer einfiel.
Natürlich hatte dieses elende Netz die nebelhafte Verschleierung bewirkt, und als ich mich endlich aus der Wirrnis von Netz, Nachthemd und Bettlaken befreien konnte, war ich atemlos und die Erscheinung verschwunden. Inzwischen war auch Evelyn aufgewacht, die mit ihrem eigenen Netz kämpfte.
Wir trafen uns am Fenster. Evelyn schüttelte mich an der Schulter. Ich muß wohl mit meinen aufgelösten Haaren wie eine Furie ausgesehen haben, und weil ich mich so weit zum Fenster hinausbeugte, fürchtete Evelyn, ich wolle Selbstmord begehen.
Nachdem ich auf dem Balkon oder im Garten darunter keine Spur unseres ungebetenen Besuchers hatte entdecken können, erzählte ich Evelyn den Vorfall. Sie zündete eine Kerze an, und ich las deutlich von ihrem Gesicht ab, was sie sagen wollte. Ich kam ihr zuvor.
»Es war kein Geist«, erklärte ich ihr bestimmt. »Ich war wach und kenne den Unterschied zwischen Traum und Wirklichkeit. Du siehst doch das zerrissene Netz …«
»… das von deinem Kampf mit Bettlaken und Nachthemd stammt. Gegenstände aus Traum und Wirklichkeit gehen da oft ineinander über.«
Ich tat einen lauten Schrei, und Evelyn sah bestürzt drein; mein Schrei rührte von einem Gegenstand her, auf den ich mit meinen nackten Füßen getreten war. Ich hob ihn auf und zeigte ihn Evelyn.
Es war ein kleines Schmuckstück von etwa Fingerlänge, das aus blaugrüner Fayence bestand und den Falkengott Horus darstellte. Dieses Ornament ist häufig als Halsschmuck der alten ägyptischen Toten zu finden.
Jetzt lag mir noch mehr daran, Kairo so schnell wie irgend möglich zu verlassen. Selbstverständlich glaubte ich nicht an Gespenster. Ein bösartiges menschliches Wesen hatte sich im mondhellen Zimmer gezeigt, und darüber machte ich mir viel mehr Sorgen als über irgendeinen Spuk. Ich dachte sofort an Alberto, aber der war ein kleiner, gemeiner und labiler Übeltäter, kein Mördertyp. Und mörderische Absichten hatte diese Gestalt sicher gehabt.
Schließlich kam ich nach langem Überlegen zu dem Schluß, es müsse doch ein Dieb gewesen sein, der gehofft hatte, in dieser Verkleidung zwei Frauen so verblüffen zu können, daß er mit seiner Beute unerkannt entkam. Das war eine raffinierte Idee, wenn sie auch nur teilweise Erfolg gehabt hatte.
Die Polizei wollte ich nicht rufen, denn von den Ägyptern läßt sich da nicht viel erwarten. Außerdem hatte ich das Gesicht nicht genau genug gesehen. Sicher würde der Eindringling auch nicht zurückkommen, sondern sich eher eine leichtere Beute suchen. Das erklärte ich Evelyn in der Hoffnung, sie damit beruhigen zu können. Sie schien trotzdem mindestens noch halb zu glauben, ich hätte nur geträumt.
Leider gelang es mir nicht, Albertos Bleibe ausfindig zu machen, um ihn überwachen lassen zu können. In Kairo gibt es so unzählige winzige Gasthäuser, daß man sie nicht alle in kurzer Zeit überprüfen kann. In einem der europäischen Hotels wohnte er jedenfalls nicht. Ich konnte aber erfahren, daß ein Mann von seinem Aussehen am Morgen eine Fahrkarte für den Zug nach Alexandria gelöst hatte, und so strich ich Alberto aus meinen Gedanken.
Walter war dagegen nicht so leicht abzuschütteln. So früh es sich höflicherweise machen ließ, erkundigte er sich nach Evelyns Befinden, doch sie wollte ihn nicht sehen. Ich verstand es und erklärte ihm so gut wie möglich ihre Gefühle, die Walter selbstverständlich falsch auslegte. Das veranlaßte ihn zu der Frage, ob er etwas getan oder gesagt habe, das Evelyns Ohnmacht zur Folge hatte. Ich versicherte ihm, das sei nicht der Fall; überzeugen konnte ich den armen Jungen damit aber nicht. Er war sehr betrübt, bat mich jedoch, Evelyn seine Grüße und besten Wünsche zu übermitteln und ihr zu sagen, er werde morgen mit seinem Bruder zum Grabungsplatz aufbrechen.
Walter tat mir so unendlich leid, daß ich um ein Haar mit der Wahrheit herausgeplatzt wäre, doch ich hatte ja kein Recht, Evelyns Vertrauen zu mißbrauchen. Ich ging also nach oben, um das arme gebrochene Herz der anderen Hälfte des
Weitere Kostenlose Bücher