Amelia Peabody 01: Im Schatten des Todes
die Pflegerin zu bestechen, Tante Marian saß in einem Stuhl bei der Tür und mußte jedesmal weggeschoben werden, wenn jemand das Krankenzimmer betreten oder verlassen wollte, Peter Forbes kletterte am Spalier in die Höhe und mußte von einem Diener und deinem demütigen Vetter – von mir – heruntergeholt werden.
Meine liebe Miß Peabody, ich lese in Ihrem Gesicht wie in einem offenen Buch. Sie denken: Da schimpft ein Kessel den anderen schwarz, und Sie halten mich ebenso wie die anderen für einen Aasgeier. Natürlich haben Sie recht. Ich leugne es nicht, daß ich bestrebt bin, meine Position auf dieser Welt zu verbessern, wo immer es möglich ist. Ich bin kein Heuchler und gebe nicht vor, den alten Herrn geliebt zu haben, wenn er auch ein paar gute Eigenschaften hatte. Evelyn ist eine kleine Heilige, sie verzeiht und vergißt alles. Und nur eine Heilige hätte Großvater lieben können. Mir tat er leid. Oh, er tat mir ehrlich leid. Da lag er nun leidend und sterbend und hatte keinen Menschen um sich, der ihn liebte.
Meine Position war weit besser als die meiner Mitaasgeier, denn ich war der Erbe, und die Ärzte und Anwälte, die bei ihm waren, wußten es. Da er sich nicht bewegen und auch nicht sprechen konnte, benützte ich meine Autorität, die ganze Familie hinauszuwerfen. Ihre Flüche machten keinen Eindruck auf mich. Ich denke aber, daß die nun eingetretene Ruhe seine Erholung ermöglichte. Sehr zum Staunen der Ärzte stampfte er nach wenigen Wochen in seinem Zimmer herum, beschimpfte seine Pflegerin und warf seinem Diener das Eßgeschirr nach. Die Ärzte warnten ihn vor starken Gemütsbewegungen. Sie sagten, ein zweiter Schlaganfall werde mit Sicherheit tödlich sein.
Nach deiner Abreise, Evelyn, ließ er sofort seinen Anwalt kommen und machte ein neues Testament. Da hinterließ er dir fünf Pfund, damit du dir einen Trauerring kaufen konntest. Mich hatte er zum Erben eingesetzt – nicht aus Zuneigung, ganz gewiß nicht, sondern weil er die übrige Verwandtschaft noch viel mehr haßte und verachtete als mich. Als er sich wieder erholt hatte, hielt ich ihm einmal vor, wie schlecht er dich behandelt habe. Ich hatte gewiß nichts gegen ein Erbe einzuwenden, aber es war ja genug da für zwei, und ich konnte meinen Reichtum nicht genießen, wenn ich wußte, daß es dir schlecht ging.
Der alte Herr wurde wütend, und so konnte ich nicht mehr von dir sprechen, wenn ich nicht einen neuen Schlaganfall heraufbeschwören wollte. Dann deutete er an, ich solle abreisen, aber er war noch ziemlich schwach, und die Ärzte meinten, jemand müsse ihm ja die Besucher vom Leib halten. Das tat ich auch.
Ich glaubte schon, sein Zorn auf dich habe sich gelegt, als eines Nachmittags … Nun ja, ich war nicht im Haus, weil ich auch einmal ein bißchen Vergnügen brauchte, denn ich hatte sehr trübsinnige Wochen hinter mir. In meiner Abwesenheit verließ Großvater das Bett und trieb die Diener an, deine Sachen zu packen, nicht nur deine Kleider und die paar Schmucksachen, die er dir geschenkt hatte. Nichts blieb zurück. Er stürmte durch deine Zimmer und warf alles, was er fand, in die Kisten. Als ich nach Hause kam, war alles verpackt, verschlossen und von einem örtlichen Fuhrmann auf den Weg gebracht. Nichts mehr im ganzen Schloß erinnerte an dich. Und da brach er dann zusammen. Das ganze Haus war in Aufruhr, Ärzte kamen an, das Hauspersonal war hysterisch, dazu schneite es, was vom Himmel herabkommen mochte; es war eine Szene wie in einem trübsinnigen Roman. Es war schrecklich!
Da hat sich Großvater dann nicht mehr erholt. Er versuchte noch ein paarmal zu sprechen, und ich hatte den Eindruck, er wolle dir verzeihen und wünschte deine Rückkehr. Ich hoffe, daß du das glaubst.«
Evelyn hatte den Kopf gesenkt. Dicke Tränen fielen auf ihre im Schoß gefalteten Hände.
»Eine sehr rührende Geschichte«, bemerkte ich trocken. »Evelyn, du verdirbst dein Kleid. Auf Satin sieht man jeden Wassertropfen.«
Evelyn holte tief Atem und tupfte sich die Augen ab. Lucas hatte die Frechheit, mir zuzuzwinkern. Das übersah ich. »Nun, Evelyn, ein Problem ist damit gelöst«, sagte ich. »Die Motive unseres Besuchers werden verständlich. Dieses Individuum hatte von der Erholung, nicht aber von dem fatalen Zusammenbruch gehört. Die Hoffnung stirbt ja nie aus.«
»Du brauchst nicht so taktvoll zu sein«, erwiderte Evelyn. »Lucas weiß genau, wen du meinst. Ich will ihn nicht kränken, indem ich über …«
»Du kränkst
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