Amelia Peabody 01: Im Schatten des Todes
schüttelte nur begeistert seine braune Hand.
»Evelyn, liebes Mädchen! Wie erleichtert bin ich … Aber wie konntest du mir einen solchen Schrecken einjagen!«
»Was, in aller Welt, tust du hier?« rief Evelyn.
»Ich bin natürlich dir gefolgt, was denn sonst? Ich fürchtete doch um deine Sicherheit. Aber wir vergessen unsere ganze Höflichkeit …« Er wandte sich lachend an mich. »Das muß Miß Peabody sein, die edle, großherzige Miß Peabody, der ich die Rettung meiner lieben Kusine verdanke. Oh, ich weiß alles! Ich war in Rom beim britischen Konsul, und über ihn habe ich dich ja gefunden. Nein, liebe Kusine, von diesem sauberen Gentleman, der dich nach Rom brachte, wollen wir nicht sprechen, doch ich weiß, was wir Miß Peabody zu verdanken haben. Meine liebe Miß Peabody, entschuldigen Sie, wenn mich meine Begeisterung mitreißt.« Er griff nach meiner Hand und schwang sie so heftig, daß ich dachte, er wolle sie mir ausreißen.
»Wirklich, Sir, ich bin ganz überwältigt …«, begann ich.
»Ich weiß, ich bin’s auch.« Der junge Mann ließ meine Hand los und lachte so perlend, wie man es bei einem Mann selten hört. »Aber bitte, meine Damen, setzen Sie sich doch, damit ich mich auch setzen kann. Dann können wir uns besser unterhalten.«
»Vielleicht denken Sie dann auch daran, sich vorzustellen«, erinnerte ich ihn und massierte meine geschundenen Finger.
»Oh, Verzeihung, Amelia«, bat Evelyn. »Darf ich dich mit meinem Vetter, Mr. Lucas Hayes, bekannt machen?«
»Das erlaube ich dir, wenn er lange genug schweigt«, antwortete ich ein wenig säuerlich, doch der junge Mann lachte breit.
»Aber ist er denn noch Mr. Hayes? Oder müßte man ihn ›Eure Lordschaft‹ nennen?«
»Sie, Miß Peabody, werden mich doch hoffentlich Lucas nennen«, schlug er liebenswürdig vor. »Für Evelyn könnte es allzu schmerzlich sein, an ihren Verlust erinnert zu werden. Ich sehe ja, daß die Nachricht Sie schon erreicht hat.«
»Wir erfuhren erst vor ein paar Tagen davon«, erklärte Evelyn traurig. »Bitte, Lucas, erzähl mir davon. Ich will alles wissen, selbst wenn es schmerzlich für mich ist. Ich hoffe, daß er mir verziehen hat, daß er wenigstens Zeit für ein freundliches Wort, für eine Botschaft hatte.« In ihren blauen Augen glänzten Tränen. Sie sah sehr schön aus, und das Gesicht des jungen Mannes drückte höchste Bewunderung aus.
»Evelyn, ich bin überzeugt, daß auch er Güte kannte. Aber laß mich meine Gedanken erst sammeln, ich will dir alles erzählen.«
Also sammelte er seine Gedanken, und ich hatte Muße, ihn zu studieren. Er war groß und breitschultrig, und seine elegante Kleidung hatte einen Anstrich von Dandyhaftigkeit. Seine Lackschuhe schimmerten wie poliertes Glas, und die Weste war mit Rosenknospen bestickt. Auf seiner schneeweißen Hemdbrust glitzerte ein riesiger Diamant, und die Hosen saßen so eng, daß ich bei jeder seiner Bewegungen fürchtete, etwas könne platzen. Seine ganze Art war sehr englisch, doch seine dunkle Haut und die großen, dunklen Augen verrieten die Nationalität seines Vaters. Seine Hände waren groß, dunkel und gut geformt, und vor allem so gut gepflegt wie die Hände einer Dame. Die Hand drückt den Charakter des Besitzers besser aus als sonst etwas. Emersons Hände waren schwielig und von harter Arbeit mit Narben bedeckt und verformt.
Dem verehrten Leser mag es vielleicht unlogisch erscheinen, daß ich etwas gegen meinen neuen Bekannten hatte. Seine Manieren waren zwar überwältigend, doch sonst war an ihnen nichts auszusetzen. Der Sprache nach war er ein Mann von Herz, Verstand und Ehre, doch ich mochte ihn einfach nicht.
»Du weißt wohl«, begann Lucas, »daß dein ehrwürdiger Großvater nach deiner … überstürzten Abreise einen fürchterlichen Wutanfall hatte und infolgedessen einen Schlaganfall erlitt. Der alte Herr war erstaunlich stabil und erholte sich wieder. Ich glaube, dieses hitzige Temperament verleiht ungeheure Kräfte. Du darfst mich nicht so vorwurfsvoll anschauen, Evelyn. Ich kann nicht vergessen, wie schlecht er dich behandelt hatte, also darf ich mir ab und zu ein Wort der Kritik wohl erlauben.
Als ich hörte, was geschehen war, reiste ich sofort zu ihm. Du kannst dir nicht vorstellen, welche Menschenmenge ich bei meiner Ankunft in Ellesmere Castle vorfand – Tanten und Onkel, Vettern und Basen jeden Grades waren wie die Aasgeier eingefallen, und der arme Leidende war belagert wie ein Fort. Vetter Wilfred versuchte
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