Amelia Peabody 02: Der Fluch des Pharaonengrabes
…«
Er war fort. Ich setzte mich neben den Felsen. Ihm zu folgen und darauf zu bestehen, angehört zu werden, hätte das Gelingen unseres Plans in Gefahr gebracht. Und außerdem war das, was ich ihm hatte mitteilen wollen, nicht länger von Bedeutung. Oder vielleicht doch? Ich kaute an meiner Unterlippe und versuchte, meine Gedanken zu ordnen. O’Connell war betäubt worden. Zweifellos hatte Emersons Kaffee, den ich zu mir genommen hatte, ebenfalls ein Betäubungsmittel enthalten. Da ich mit so etwas gerechnet hatte, hatte ich Emersons Kaffee getrunken und ihn dann sofort wieder von mir gegeben. Trotzdem hatte Emerson, als ich gerade auf ihn gestoßen war, tief und fest geschlafen. Ganz sicher hatte ich Theaterspiel und Wirklichkeit nicht miteinander verwechselt. Ich hatte bemerkt, wie schlaff sich sein Körper anfühlte, und hätte er sich nur schlafend gestellt, hätte er mein Flüstern hören müssen. Er hatte meinen Kaffee getrunken. Oder hatte noch jemand Tassen mit ihm getauscht?
Ein schwacher Schimmer künstlichen Lichtes riß mich aus meinen beunruhigenden Gedanken. Emerson hatte die Laterne angezündet. Ich billigte diesen Entschluß. Wenn ich recht hatte, rechnete der Mörder damit, ihn betäubt und hilflos vorzufinden, und im Lampenlicht konnte man ihn besser ausgestreckt daliegen sehen. Ich wünschte nur, ich hätte sicher sein können, daß er wirklich nicht unter dem Einfluß eines Betäubungsmittels stand. Ich holte tief Luft und ballte die Fäuste. Es tat nichts zur Sache. Ich war bereit. Ich hatte mein Messer, meine Pistole und meinen Sonnenschirm. Ich war entschlossen, meine Pflicht zu tun, und die Liebe verlieh mir Kraft bis in den letzten Muskel. Ich sagte mir, daß Emerson gar nicht in besseren Händen sein konnte als in meinen.
Das sagte ich mir. Doch mit der Zeit fing ich an, meine eigenen Beteuerungen zu bezweifeln – nicht etwa, weil ich keinen Glauben mehr an meine Fähigkeiten besaß, sondern weil ich so viel zu verlieren hatte, falls ich durch einen unvorhergesehenen, unglücklichen Zwischenfall am rechtzeitigen Handeln gehindert werden sollte. Emerson hatte sich neben die Treppe auf den Boden gesetzt; er saß da, den Rücken an die Wand gelehnt und eine Pfeife im Mund. Nachdem er eine Weile geraucht hatte, klopfte er die Pfeife aus und verharrte dann reglos. Allmählich sank sein Kopf nach vorne. Die Pfeife fiel ihm aus der schlaffen Hand. Seine Schultern beugten sich, das Kinn ruhte auf der Brust, er schlief – oder gab er nur vor, zu schlafen? Ein Windhauch zauste ihm das dunkle Haar. Mit wachsendem Unbehagen beobachtete ich seine reglose Gestalt. Ich befand mich mindestens zehn Meter entfernt. Konnte ich ihn rechtzeitig erreichen? Neben mir wälzte sich O’Connell herum und fing an zu schnarchen. Am liebsten hätte ich ihn getreten, obwohl ich wußte, daß er nicht an seiner Bewußtlosigkeit schuld war.
Die Nacht war schon weit fortgeschritten, als das erste verräterische Geräusch an mein Ohr drang. Es handelte sich nur um das leise Klappern eines Kiesels auf Stein und hätte auch von einem umherstreifenden Tier stammen können; doch es ließ mich auffahren, meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Trotzdem entging mir fast das erste Anzeichen dafür, daß sich etwas bewegte; hinter dem Zaun, außerhalb des Lichtkegels.
Ich hatte gewußt, womit ich rechnen mußte; doch als die dunkle Gestalt vorsichtig näherkam, so daß ich sie sehen konnte, hielt ich den Atem an. Von Kopf bis Fuß in eng anliegenden Musselin gehüllt, der selbst ihr Gesicht bedeckte, erinnerte sie mich an das erste Auftauchen Ayeshas, der unsterblichen Frau oder Göttin, in Mr. Haggards spannendem Roman mit dem Titel »Sie«. Ayesha verschleierte Gesicht und Körper, da ihre bezaubernde Schönheit den Männern den Verstand raubte; die Verkleidung dieser Erscheinung diente weniger lauteren Zwecken, doch sie löste in mir das gleiche Gefühl des Grauens und der Angst aus. Kein Wunder, daß alle, die sie gesehen hatten, sie für ein Nachtgespenst oder den Geist einer Königin längst vergangener Zeiten hielten.
Angespannt stand sie da, wie bereit, jeden Moment die Flucht zu ergreifen. Der Nachtwind ließ ihre Gewänder flattern wie die Flügel einer riesigen weißen Motte. So stark war mein Drang, mich auf sie zu stürzen, daß ich mir fest auf die Unterlippe biß, bis ich den salzigen Blutgeschmack spürte. Ich mußte warten. In den nahegelegenen Klippen gab es zu viele Möglichkeiten, sich zu
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