Amelia Peabody 02: Der Fluch des Pharaonengrabes
hineinzuschauen. Sie war immer noch trügerisch gefaßt, wie es nach einem Schock, sei er nun freudiger oder tragischer Natur, häufig der Fall ist – doch über kurz oder lang würde sie gewiß unter dem verwirrenden Durcheinander von Gefühlen, die in ihr tobten, zusammenbrechen. Ich behandelte sie wie ein verletztes oder verängstigtes Kind, indem ich sie ins Bett verfrachtete und zum Trost eine brennende Kerze stehenließ. Sie war mir für diese Zuwendung, die sie zweifellos noch nie erlebt hatte, rührend dankbar. Ich nutzte die Gelegenheit, um mit ihr über christliche Stärke und britischen Kämpfergeist angesichts widriger Umstände zu sprechen, und fügte hinzu, daß ihre Zukunft, trotz allen Respekts gegenüber ihrer Mutter, für sie eigentlich nur rosig aussehen könne. Ich hätte noch mehr zu sagen gewußt, doch an dieser Stelle unserer Unterhaltung schlief sie ein. Also steckte ich das Moskitonetz um sie herum fest und schlich hinaus.
Emerson wartete vor der Tür. Er lehnte mit verschränkten Armen an der Wand und machte wie so oft ein Gesicht, das »wenn ich nicht so ungewöhnlich geduldig wäre, würde ich schreien und mit dem Fuß aufstampfen« ausdrücken sollte.
»Warum hast du so verdammt lange herumgetrödelt?« wollte er wissen. »Ich habe es eilig.«
»Ich habe dich nicht gebeten, auf mich zu warten.«
»Ich muß mit dir sprechen.«
»Wir haben nichts zu besprechen.«
»Ach!« rief Emerson in dem überraschten Tonfall eines Menschen aus, der soeben eine Entdeckung gemacht hat. »Du bist wütend, weil ich dich nicht gefragt habe, ob du heute nacht mit mir Wache halten willst.«
»Lächerlich. Wenn du unbedingt wie ein Standbild der Geduld herumsitzen und warten willst, bis ein Mörder dich überfällt, werde ich dich nicht davon abhalten.«
»Das glaubst du also?« Emerson lachte laut auf. »Nein, nein, meine liebe Peabody. Das mit der Botschaft war nur eine Finte, selbstverständlich …«
»Ich weiß.«
»Hmmm«, meinte Emerson. »Denkst du, die anderen wissen das auch?«
»Wahrscheinlich.«
»Worum sorgst du dich dann?«
In diesem Punkt mußte ich ihm recht geben. Die Botschaft war so eine durchsichtige Ausrede, daß nur ein Vollidiot nicht durchschaut hätte, daß es sich um eine Finte handelte.
»Hmmm«, sagte ich.
»Ich hatte gehofft«, gab Emerson zu, »daß dieser Kunstgriff unseren Verdächtigen dazu bewegen würde, nicht etwa mich zu ermorden – ich bin, wie du vielleicht beobachtet hast, mein Liebling, kein Held –, sondern zu fliehen. Wie du glaube ich mittlerweile, daß meine Finte fehlgeschlagen ist. Allerdings möchte ich, falls der Mörder nervöser oder dümmer sein sollte, als wir glauben, daß du hierbleibst und achtgibst, ob jemand das Haus verläßt.«
Beim Sprechen waren wir langsam durch den Hof geschlendert. Nun hatten wir die Tür zu unserem Zimmer erreicht. Emerson öffnete sie, schob mich hinein und umfing mich in einer heftigen Umarmung.
»Schlaf gut, Peabody, mein Liebling. Träum von mir.«
Ich schlang die Arme um seinen Hals. »Mein liebster Mann, achte auf dein wertvolles Leben. Ich würde nie versuchen, dich von deiner Pflicht abzuhalten, doch vergiß nicht, wenn du fallen solltest …«
Emerson stieß mich weg. »Verdammt, Peabody, wie kannst du es wagen, dich über mich lustig zu machen? Hoffentlich stolperst du über einen Stuhl und verstauchst dir den Knöchel.«
Und mit diesen zärtlichen Abschiedsworten verließ er mich, wobei er leise vor sich hin fluchte.
Ich wandte mich an Bastet, die Katze, deren geschmeidige Gestalt ich vor dem offenen Fenster gesehen hatte.
»Er hat das verdient«, sagte ich. »Ich könnte dir fast beipflichten, Bastet; Katzen sind viel vernünftiger als Menschen.«
Bastet und ich hielten gemeinsam Wache, während die Zeiger meiner kleinen Taschenuhr langsam gen Mitternacht krochen. Ich fühlte mich geschmeichelt, weil die Katze bei mir blieb, obwohl sie sonst offensichtlich Emerson bevorzugte. Zweifellos sagte ihr ihr wacher Geist, daß der treueste Freund nicht immer der ist, der Hühnchen in der Tasche hat.
Emersons glatte Ausrede hatte mich nicht einen Augenblick lang täuschen können. Er hoffte, der Mörder würde ihm seine Lüge über Botschaften und entscheidende Hinweise abnehmen; er erwartete, noch in dieser Nacht überfallen zu werden. Je länger ich darüber nachdachte, desto unbehaglicher wurde mir. Ein vernünftiger Mörder (falls es so etwas überhaupt gibt) wäre keine Sekunde auf Emersons
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