Amelia Peabody 02: Der Fluch des Pharaonengrabes
wurden die Schatten allmählich länger, und ich drängte Emerson, der vor mir war, sich zu beeilen. Ich wollte genug Zeit haben, um mich auf die Verabredung vorzubereiten. Wir waren fast oben angelangt, als ich ein Geräusch vernahm. Ich packte Emerson an den Fußgelenken und riß ihn nach unten. Der Felsbrocken, den ich an der Kante hatte wippen sehen, verfehlte ihn um weniger als dreißig Zentimeter; beim Aufprall stob ein Hagel von Felssplittern in alle Richtungen.
Langsam erhob sich Emerson. »Ich wünschte, Peabody, du wärst ein bißchen weniger schroff in deinen Methoden«, meinte er und wischte sich mit dem Ärmel das Blut, das von seiner Nase tropfte. »Ein ruhiges >Paß auf, da oben!< oder ein Ziehen an meinem Hemdzipfel hätte sich als ebenso wirksam, dafür aber weniger schmerzhaft erwiesen.«
Natürlich war diese Bemerkung lächerlich; ich hatte jedoch keine Zeit, darauf zu antworten, denn als sich Emerson mit einem raschen Blick vergewissert hatte, daß ich unverletzt war, drehte er sich sofort um, kletterte mit erheblicher Geschwindigkeit weiter und verschwand schließlich jenseits der Felskante. Ich folgte ihm. Als ich oben angekommen war, konnte ich ihn nirgendwo entdecken, deshalb setzte ich mich auf einen Felsen, um auf ihn zu warten und – um ehrlich zu sein – meine Nerven zu beruhigen.
Die Theorie, die ich in Kairo für kurze Zeit erwogen hatte, schien sich nun zu bestätigen. Irgend jemand war entschlossen, Emerson an der Fortsetzung von Lord Baskervilles Werk zu hindern. Ob der Tod des Lords Teil dieses Plans war oder ob der unbekannte Schurke einen tragischen Unfall für seine Zwecke genutzt hatte, konnte ich damals nicht ermitteln, doch ich war mir sicher, daß dies nicht der letzte Anschlag auf meinen Mann gewesen war. Wie froh war ich, daß ich der scheinbar selbstsüchtigen Eingebung gefolgt war, ihn zu begleiten. Der angebliche Konflikt zwischen meinen Pflichten als Ehefrau und meinen Pflichten als Mutter war in Wirklichkeit niemals ein Konflikt gewesen. Ramses war in Sicherheit und glücklich; Emerson hingegen schwebte in tödlicher Gefahr, und mein Platz war an seiner Seite.
Während ich noch meinen Gedanken nachhing, sah ich Emerson hinter einem Gesteinshaufen hervorkommen, der ein wenig abseits des Pfades lag. Sein Gesicht war blutverschmiert, und seine Augen funkelten vor Zorn. Er bot einen furchterregenden Anblick.
»Er hat sich aus dem Staub gemacht, oder?« fragte ich.
»Spurlos verschwunden. Ich hätte dich nicht allein gelassen«, fügte er entschuldigend hinzu, »wenn ich nicht sicher gewesen wäre, daß der Schurke in dem Moment, als der Felsen herunterfiel, geflüchtet ist.«
»Unsinn. Der Anschlag galt dir, nicht mir – obgleich dieser Verbrecher sich wenig darum zu scheren scheint, wen er in Gefahr bringt. Das Messer …«
»Ich glaube nicht, daß die beiden Vorfälle miteinander zusammenhängen, Amelia. Die Hände, die diesen Felsbrocken losgerollt haben, sind bestimmt die schmutzigen Hände von Habib.«
Es sprach einiges für die Richtigkeit dieser Vermutung. »Doch warum haßt er dich so?« fragte ich. »Ich habe mitbekommen, daß es zwischen euch nicht zum besten steht, aber ein Mordversuch …«
»Ich bin dafür verantwortlich, daß er wegen des Verbrechens, von dem ich gesprochen habe, verhaftet wurde.« Emerson nahm das Taschentuch, das ich ihm reichte, und versuchte, sein Gesicht zu säubern, während wir weitermarschierten.
»Was hat er verbrochen? Antike Schätze geraubt?«
»Das natürlich auch. Die meisten Männer in Gurneh sind an Schiebereien mit Antiquitäten beteiligt. Doch die Tat, für die ich ihn vor Gericht brachte, war ganz anderer und sehr betrüblicher Art. Habib hatte eine Tochter. Sie hieß Aziza. Als sie noch ein kleines Mädchen war, arbeitete sie für mich als Trägerin. Aus ihr wurde eine ungewöhnlich hübsche junge Frau, schlank und zierlich wie eine Gazelle, mit großen dunklen Augen, bei deren Anblick das Herz jedes Mannes dahinschmolz.«
Die Geschichte, die Emerson mir erzählte, würde wirklich das härteste Herz zum Schmelzen bringen – selbst das eines Mannes. Dank ihrer Schönheit wurde das Mädchen zu einem wertvollen Gut, und ihr Vater hoffte, sie an einen wohlhabenden Landbesitzer verkaufen zu können. Leider zog aber ihre Schönheit noch andere Bewunderer an. Als ihre Schande ruchbar wurde, wollte der reiche und widerwärtige Käufer nichts mehr von ihr wissen, und ihr Vater, der über den Verlust des Geldes
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