Amelia Peabody 02: Der Fluch des Pharaonengrabes
bei dem seltsamen Gegenstand um einen mumifizierten, menschlichen Arm handelte – oder vielmehr die zerfallenen Überreste eines solchen, da der Großteil der Haut fehlte. Die blanken Knochen waren braun und brüchig vom Alter, die verbliebenen Hautfetzen zu einer harten, ledrigen Schicht verschrumpelt. Durch einen merkwürdigen Zufall waren die zarten Fingerknochen nicht beschädigt; sie waren ausgestreckt, als flehten sie verzweifelt um Luft – um Rettung –, um ihr Leben.
Kapitel 10
Diese Geste löste in mir ein eigenartiges Gefühl aus, obgleich mir klar war, daß es sich nur um eine zufällige Anordnung von Knochenmaterial handelte. Doch ein Archäologe hat kaltblütig zu sein, weshalb ich meine Empfindungen für mich behielt.
»Wo liegt der Rest von ihm?« wollte ich wissen.
»Unter dem Gesteinsquader«, antwortete Vandergelt. »Offenbar handelt es sich hier um einen Fall von ausgleichender Gerechtigkeit, Mrs. Amelia – einem Dieb, der im allerwörtlichsten Sinne auf frischer Tat erwischt wurde.«
Ich blickte hoch zur Decke. Die rechteckige Spalte in der Oberfläche bildete eine dunkle Öffnung. »Könnte es ein Unfall gewesen sein?« fragte ich.
»Kaum«, erwiderte Emerson. »Wie wir leider feststellen mußten, ist das Gestein hier gefährlich brüchig. Die symmetrische Form des Blocks beweist jedoch, daß er absichtlich aus dem Ganggestein herausgemeißelt und so befestigt wurde, daß er herunterfiel, sobald ein Dieb unwissentlich den Auslösemechanismus betätigte. Faszinierend! Wir haben schon viele solcher Vorrichtungen gesehen, Peabody, aber noch keine, die so gut funktionierte.«
»Sieht so aus, als sei der Brocken fast einen Meter dick«, meinte Vandergelt. »Ich glaube, von dem armen Teufel ist nicht viel übriggeblieben.«
»Jedenfalls genug, um unsere Arbeiter aus der Fassung zu bringen«, entgegnete Emerson.
»Aber wieso denn?« fragte ich. »Sie haben doch schon Hunderte von Mumien und Skeletten ausgegraben.«
»Nicht unter diesen besonderen Umständen. Könnte es denn einen noch überzeugenderen Beweis dafür geben, daß er wirksam ist, dieser pharaonische Fluch?«
Sein letztes Wort hallte aus der Tiefe wider: »Fluch … Fluch …«, und noch einmal ein schwach geflüstertes »Fluch …«, bevor es schließlich verklang.
»He, lassen Sie den Quatsch, Professor«, sagte Vandergelt, dem unbehaglich zumute war. »Sie schaffen es noch, daß ich selbst anfange, über Dämonen nachzudenken. Was halten Sie davon, wenn wir uns für heute verdrücken? Es ist schon spät, und das Ding hier wird uns noch ziemlich zu schaffen machen.«
»Verdrücken? Sie meinen aufhören?« Emerson blickte ihn entgeistert an. »Nein, nein, ich muß herausfinden, was unter dem Quader liegt. Peabody, hol Karl und Abdullah.«
Ich fand Karl, wie er mit dem Rücken gegen den Zaun gelehnt sorgfältig eine Inschrift kopierte. Emersons dringlicher Aufforderung zum Trotz konnte ich nicht umhin, einen Augenblick lang stehenzubleiben und zu staunen, wie rasch seine Hand die komplizierten Formen der Hieroglyphen nachzeichnete: winzige Vögel und Tiere, Gestalten von Männern und Frauen, und die schwerer verständlichen Symbole, die an Blumen, architektonische Formen und so etwas erinnerten. Der junge Mann war so sehr in seine Arbeit vertieft, daß er mich nicht bemerkte, bis ich ihn an der Schulter berührte.
Mit Karls und Abdullahs Hilfe schafften wir es, den Quader hochzuhieven, obwohl das eine knifflige und gefährliche Prozedur war. Mit Hebeln und Keilen wurde er Zentimeter um Zentimeter hochgestemmt und schließlich zur Seite gekippt, so daß die Überreste des vor langer Zeit getöteten Diebes zum Vorschein kamen. Man konnte sich nur schwer vorstellen, daß dieses Häufchen brüchiger Knochen einst ein Mensch gewesen war. Auch der Schädel war völlig zertrümmert.
»Hol’s der Teufel, jetzt brauchten wir unseren Photographen«, murmelte Emerson. »Peabody, geh zum Haus und …«
»Seien Sie doch vernünftig, Professor«, meinte Vandergelt. »Das hat noch bis morgen Zeit. Sie wollen doch nicht, daß Ihre Frau nachts auf der Hochebene herumläuft?«
»Ist es schon Nacht?« fragte Emerson.
»Erlauben Sie, daß ich eine Skizze anfertige, Herr Professor?« fragte Karl. »Ich zeichne zwar nicht so schön und gekonnt wie Miss Mary, aber …«
»Ja, ja, das ist eine gute Idee.« Emerson ging in die Hocke. Mit Hilfe einer kleinen Bürste begann er, die Staubschicht von den Knochen abzutragen.
»Ich weiß
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