Amelia Peabody 02: Der Fluch des Pharaonengrabes
Vorstellungskraft fiel es mir nicht schwer, mir dieses antike Drama und seinen Ablauf auszumalen: Die Grabkammer, nur durch die rußige Flamme einer billigen tönernen Lampe erhellt, der Deckel des großen Steinsarkophags beiseitegeworfen und das gemeißelte Gesicht des Toten, das geheimnisvoll auf die verstohlenen Gestalten starrt, die hin und her eilen, ganze Händevoll Juwelen zusammenrafften und goldene Statuen und Schalen in die Säcke stopften, die sie zu diesem Zweck mitgebracht haben. Auch wenn diese Diebe aus dem antiken Gurneh sich nicht so leicht ins Bockshorn jagen ließen, konnten sie wohl doch nicht völlig frei von Angst gewesen sein, denn einer von ihnen hatte sich das Amulett des toten Königs um den Hals gelegt, so daß der Skarabäus über seinem heftig pochenden Herzen ruhte. Als er mit seiner Beute fliehen wollte, war er in die Falle geraten, deren Donnerhall sicherlich die Wächter der Totenstadt auf den Plan gerufen haben mußte. Die Priester, die den Schaden behoben, hatten den herabgestürzten Monolith als Warnung für zukünftige Diebe liegen gelassen; und wirklich hätte man, wie Emerson gesagt hatte, keinen besseren Beweis für den Zorn der Götter finden können.
Mit einem Seufzer kehrte ich in die Gegenwart und zu Emerson zurück, der den Gegenstand vorsichtig wieder in der Schachtel verstaute.
»Wenn wir bloß die Inschrift entziffern könnten«, sagte ich. »Das Amulett muß dem Besitzer unseres Grabes gehören.«
»Ach, das ist dir nicht gelungen?« Emerson grinste mich hämisch an.
»Meinst du denn …«
»Natürlich meine ich das. Deine weibliche Schwäche für Gold vernebelt dir den Verstand, Peabody. Benutz doch dein Hirn. Es sei denn, du willst, daß ich dir erkläre …«
»Das wird nicht nötig sein«, erwiderte ich und dachte hastig nach. »Aus der Tatsache, daß der Name und die Gestalt des Grabbesitzers ausgelöscht wurden, dürfen wir schließen, daß er einer der ketzerischen Pharaonen war – möglicherweise Echnaton selbst. Das heißt, falls der Bau des Grabes zu Anfang seiner Herrschaft begonnen wurde, bevor er Theben verließ und die Anbetung der alten Götter verbot. Die Fragmente der verbliebenen Hieroglyphen fügen sich jedoch nicht in seinen Namen. Es gibt nur einen Namen, der dazu paßt …« Ich zögerte und kramte rasch in meinem Gedächtnis. »Der Name von Tutenchamon«, sagte ich triumphierend.
»Hmmm«, machte Emerson.
»Wir wissen«, fuhr ich fort, »daß die Angehörigen des Königshauses …«
»Es reicht«, meinte Emerson grob. »Ich kenne mich auf diesem Gebiet besser aus als du, also halte mir keine Vorträge. Beeil dich bitte mit dem Umkleiden. Ich habe eine Menge zu erledigen, und ich möchte endlich damit anfangen.«
Normalerweise ist Emerson so frei von Kollegenneid, wie das ein Mann nur sein kann, doch gelegentlich reagiert er ungehalten, wenn sich herausstellt, daß ich ihm geistig überlegen bin. Also ließ ich ihn weiterschmollen, und während ich mich umkleidete, versuchte ich, mir ins Gedächtnis zu rufen, was ich über den Pharao Tutenchamon wußte.
Es war nicht viel über ihn bekannt. Er hatte eine der Töchter Echnatons geheiratet, war aber nach seiner Rückkehr nach Theben kein Anhänger des ketzerischen Glaubens seines Schwiegervaters geworden. Obwohl es stets ein unvergleichliches Erlebnis ist, ein Königsgrab zu entdecken, konnte ich nicht umhin, mir zu wünschen, daß wir jemand anderen gefunden hätten als diesen kurzlebigen König, der nicht lange regiert hatte. Einer der großen Amenhoteps oder Thutmosis’ wäre viel aufregender gewesen.
Die übrige Gesellschaft wartete bereits auf uns im Salon. Ich glaube, Emerson hatte vor Freude über seine Entdeckung Madame Berengeria ganz vergessen. Als er der fülligen Gestalt der Dame gewahr wurde, die wie gewöhnlich in ein absonderliches Gewand gehüllt war, huschte ein leidender Ausdruck über sein Gesicht. Allerdings schenkten uns die anderen kaum Beachtung; selbst Madame lauschte offenen Mundes Vandergelts Worten, der auf dramatische Weise die Überreste des Diebes beschrieb. (Er ließ dabei kein Wort über das Gold fallen.)
»Armer Kerl«, sagte Mary sanft. »Der Gedanke, daß er dort Tausende von Jahren liegt, betrauert von Frau und Mutter und Kindern, vergessen von der Welt …«
»Er war ein Dieb und Verbrecher, der sein Schicksal verdient hat«, sagte Lady Baskerville.
»Seine verwunschene Seele windet sich im glutroten Höllenschlund des Amenti«, sprach Madame
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