Amelia Peabody 02: Der Fluch des Pharaonengrabes
energiegeladen wie immer. Ich war mir dessen bewußt, daß ich nicht gerade vorteilhaft aussah.
»Es ist nicht sehr weit«, stellte Vandergelt fest, nachdem er die Breite des Schachts abgeschätzt hatte. »Ich schätze, ich könnte drüberspringen.«
»Ich schätze, das werden Sie lassen«, meinte Emerson mit einem höhnischen Blick. »Über den Spalt kämen Sie vielleicht, aber wo würden Sie landen? Der Absatz ist weniger als dreißig Zentimeter breit, und dahinter befindet sich eine nackte Wand.«
Er ging zum Rand des Abgrunds, legte sich flach auf den Bauch, daß sein Kopf und seine Schultern ins Leere ragten, und ließ die Laterne hinab, so weit sein Arm reichte. Die kleine Flamme verfärbte sich blau. Die Luft in diesen Tiefen war immer noch schlecht, weil es keine Sauerstoffzufuhr gab, und unten im Schacht war es noch schlimmer. Obwohl ich sofort Emersons Beispiel gefolgt war, konnte ich nur wenige Einzelheiten erkennen. Ganz unten am Ende des Lichtkegels entdeckte ich ein fahles, unbestimmbares Schimmern – noch mehr der allgegenwärtigen Kalksteinsplitter, von denen wir bereits so viele Tonnen aus dem Grab entfernt hatten.
»Ja«, sagte Emerson, als ich dieser Beobachtung Ausdruck verlieh. »Der Schacht ist teilweise aufgeschüttet. Der obere Abschnitt wurde in der Hoffnung offengelassen, daß ein Grabräuber hineinstolpert und sich alle Knochen bricht.« Er erhob sich und beleuchtete die Wand auf der anderen Seite. Dort hob der schakalköpfige Führer der Toten unheilverkündend und würdevoll die Hand zum Gruß.
»Vor uns sehen wir – Amelia, meine Herren – die Möglichkeiten, die uns offenstehen«, erklärte Emerson. »Der weitere Verlauf des Gangs ist verborgen. Entweder liegt er hinter dieser Abbildung von Anubis auf dieser Wand oder weiter unten und zweigt in der Tiefe des Schachts ab. Ganz offensichtlich müssen wir jeder Möglichkeit nachgehen. Doch keines von beiden können wir heute nacht tun. Ich brauche eine gute Kopie von Anubis, ehe wir Bohlen hinunterbringen, um den Spalt zu überbrücken, und anfangen, an der Wand herumzuhacken. Um den Schacht zu untersuchen, brauchen wir Seile, und es wäre ratsam, wenn wir damit warten, bis die Luft ein wenig besser wird. Wir haben ja alle gesehen, daß sich die Flamme in der Lampe blau verfärbte.«
»Mist!« rief Mr. Vandergelt aus. »Hören Sie, Professor, ich werde mein Glück da unten sofort versuchen. Sie haben doch Seile hier, lassen Sie mich einfach hinunter, und ich …«
»Aber nein, ein Jüngerer und Stärkerer muß hinab!« mischte sich Karl ein. »Herr Professor, lassen Sie mich …«
»Ich selbst werde der erste sein, der dort hinuntersteigt«, sagte Emerson in einem Ton, der sich jede weitere Bemerkung verbat. »Und das wird morgen früh sein.« Er warf mir nachdrücklich einen Blick zu. Ich lächelte, doch ich schwieg. Es war klar, daß der Leichteste von uns den Abstieg unternehmen sollte, allerdings würde später noch genug Zeit sein, das zu erörtern.
Nach einer Weile räusperte sich Emerson. »Nun denn, wir sind uns also einig. Ich schlage vor, daß wir für heute aufhören und uns morgen in aller Früh ans Werk machen. Jetzt möchte ich unbedingt erfahren, wie es im Haus steht.«
»Und wer wird heute nacht Wache halten?« fragte Vandergelt.
»Peabody und ich.«
»Peabody? Wer ist … oh, ich verstehe. Hören Sie, Professor, Sie würden mich doch nicht übers Ohr hauen? Es ist nicht fair, daß Sie und Mrs. Amelia schon heute nacht weiterarbeiten.«
»Darf ich Sie daran erinnern, daß ich der Leiter dieser Expedition bin?« sagte Emerson.
Wenn er diesen Ton anschlägt, ist es selten nötig, daß er sich wiederholt. Vandergelt, der über eine starke Persönlichkeit verfügte, erkannte die Überlegenheit seines Gegenübers an und schwieg.
Trotzdem klebte er den ganzen Heimweg lang an unseren Fersen, so daß es mir unmöglich war, ein privates Wort mit meinem Gatten zu wechseln, wie ich es eigentlich gehofft hatte. Als er mich zur Teilnehmerin an seiner Nachtwache auserkoren hatte, hatte mein Herz vor Freude einen Sprung gemacht, und die Entscheidung hatte meinen Verdacht bestätigt, daß er mehr vorhatte, als nur aufzupassen. Wem konnte er so vertrauen wie mir, seiner Lebensgefährtin und Mitarbeiterin? Sein Beschluß, früh mit der Arbeit aufzuhören, ergab sehr viel Sinn: Solange es hell war, gleichgültig ob die Sonne oder der Mond schien, war das Grab sicher. Die Schurken aus Gurneh wurden, wie andere finstere
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