Amelia Peabody 03: Der Mumienschrein
Erziehung der kleinen Mädchen betraf, denn die koptischen Frauen waren nicht besser dran als ihre moslemischen Schwestern. Vielleicht hatten wenigstens diese Mädchen hier Aussichten auf ein besseres Dasein.
Sogar Emerson schien von dem Bild, das sich ihm bot, angerührt zu sein, obwohl ihm manche Leute derartige Regungen glatt absprachen. Er beobachtete die Szene einige Augenblicke, doch dann beugte er sich zu mir und sagte leise: »Die Gelegenheit ist günstig! Wir können allein mit dem Mädchen sprechen.«
Als ich mich vernehmlich räusperte, fuhr Charity erschrocken in die Höhe und sah sich suchend um. Ich trat aus dem Schatten eines Baumes und sagte: »Ich bin es nur, Miß Charity! Professor Emerson ist auch hier. Bleiben Sie doch sitzen, und lassen Sie uns ein wenig reden!«
Sie sank wieder auf den Stein. »Der Unterricht ist beendet«, sagte sie zu den Mädchen. »Ihr könnt nach Hause gehen.«
Eines der Mädchen wollte betteln, doch nach einem kurzen Blick auf Charity hinderten die anderen sie. Ich ließ mich neben dem Mädchen auf dem Stein nieder. »Verzeihen Sie, daß ich Sie so erschreckt habe!«
Emerson machte eine ungeduldige Handbewegung. »Wir verschwenden kostbare Zeit, Peabody! Sicher werden wir bald gestört. Wovor fürchten Sie sich denn, mein Kind?«
Er kniete neben ihr nieder, und ich erwartete, daß sie sich zurückziehen würde, doch irgendwie schien ihr sein ernster Gesichtsausdruck Mut einzuflößen. »Ich war so sehr in die schöne Geschichte vertieft und erwartete niemanden …«
»Bah!« rief Emerson. »Hat man Ihnen noch nicht beigebracht, daß Lügen Sünde ist, Miß Charity?«
»Das war die Wahrheit, Sir.«
»Höchstens die halbe. Dieses Dorf ist kein sicherer Aufenthaltsort mehr, Kind. Können Sie Ihren Bruder nicht überzeugen, von hier wegzugehen?«
Das Mädchen hob den Kopf. »Sehen Sie denn nicht, was wir hier tun? Können wir diese hilflosen Geschöpfe einfach verlassen und aufgeben?«
Emerson schüttelte stirnrunzelnd den Kopf. »Sie sind in Gefahr, und ich glaube, daß Sie das wissen. Gibt es denn keinen Weg … Peabody, was ist denn los?«
»Wir werden aus dem Haus beobachtet«, berichtete ich. »Ich sah, wie sich ein Vorhang bewegt hat. Verdammt! Jetzt öffnet sich die Tür … er kommt.«
»Verflucht!« schimpfte Emerson. »Bleiben Sie sitzen, und hören Sie mir zu, Miß Charity! Vielleicht werden Sie eines Tages unsere Hilfe brauchen. Dann rufen Sie uns, ganz gleich zu welcher Stunde!«
Charity antwortete nicht, und Ezekiel war fast bei uns.
»Dachte ich es mir doch! Der Professor und seine ehrenwerte Ehefrau. Was sitzt du da herum, Charity? Warum bittest du sie denn nicht ins Haus?«
Charity erhob sich gehorsam wie eine Marionette. »Ich bin zerstreut«, sagte sie. »Verzeih mir, Bruder!«
»Das macht doch nichts«, sagte Emerson, obwohl die Entschuldigung gar nicht an ihn gerichtet war. »Wir sind nur … nur zufällig vorbeigekommen.«
»Sie müssen in mein Haus kommen«, bestimmte Ezekiel. »Wir wollen das Brot miteinander brechen. Charity, suche Bruder David!«
»Ja, Bruder.« Sie schwebte mit gefalteten Händen und gesenktem Kopf davon, und wir folgten ihrem Bruder ins Haus.
Wir wurden in das kahlste Wohnzimmer geführt, das ich in meinem Leben gesehen hatte. Einige gerade Stühle, ein Tisch und darauf das Neue Testament – sonst nichts. Kein Teppich, kein Bild – nichts. Das einzig interessante Möbelstück in diesem Raum war ein Bücherregal, das mich anzog, wie ein Feuer den Frierenden anzieht. Doch die meisten Bücher waren theologische Werke in verschiedenen Sprachen.
Kurze Zeit später erschien Bruder David. Ich hatte ihn einige Zeit nicht gesehen und war überrascht, wie verändert er aussah. Sein Haar war glanzlos, seine Augen eingefallen, und außerdem hatte er beträchtlich abgenommen. Auf meine Fragen nach seinem Gesundheitszustand antwortete er mit unsicherem Lächeln: »Doch, doch, es geht mir ganz gut. Ich bin nur ein bißchen müde, weil ich die … die Hitze so schlecht vertrage.«
Ich tauschte einen bedeutungsvollen Blick mit Emerson. Soviel ich wußte, war gerade Winter, in dem kühle Nächte die angenehme Wärme des Tages unterbrechen. Von Hitze konnte absolut keine Rede sein.
Bruder Ezekiel war dagegen in angeregter Stimmung. Er rieb sich die Hände und verkündete: »Charity ist bald mit dem Essen fertig. Ich möchte Sie ausdrücklich einladen!«
»Aber wir können leider nicht bleiben, denn wir haben gerade heute
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