Amelia Peabody 03: Der Mumienschrein
Zettel.
»Mitternacht«, murmelte er. »Warum suchen sich die Verzweifelten nur immer diesen Zeitpunkt aus? Vorher lohnt sich das Schlafen meistens nicht, und hinterher ist von der Nacht nicht mehr viel übrig.«
»Sprich nicht so laut«, bat ich. »Ich möchte nicht, daß uns jemand hört, besonders Ramses nicht.«
»Sie scheint nicht unmittelbar in Gefahr zu sein«, bemerkte Emerson. »Was wohl das >entsetzliche Ding< ist, das sie entdeckt hat? Der Brief klingt sehr verzweifelt.«
»Ich glaube, ich weiß, was sie meint.«
»O ja, ich auch. Ich bin gespannt, ob sie endlich entdeckt hat, was ich schon lange weiß.«
Wir hatten bis zu unserer Verabredung noch eine Stunde Zeit, die wir damit verbrachten, Ramses ins Bett zu schicken. Er hatte wieder an seinem Manuskript gearbeitet und versuchte mit allen Tricks, die Schlafenszeit hinauszuschieben. »Mama, ich habe daf Fragment entziffert. Möchteft du wiffen, waf darin fteht?«
»Nicht jetzt, Ramses. Morgen.«
»Aber ef ift fehr intereffant, Mama. Auf dem kleineren Ftück fteht etwaf über den Fohn von …«
»Der Sohn von Gott ist eine gebräuchliche Redewendung für Jesus«, erklärte ich. »Auch wenn dein Vater anderer Meinung ist, müssen wir endlich etwas für deinen Religionsunterricht tun. Wenigstens das Grundwissen sollte man haben.«
»Ja, Mama. Daf Evangelium def heiligen Thomaf …«
»Genau das meine ich, mein Sohn. Es gibt nämlich kein Evangelium des heiligen Thomas; Matthäus, Markus, Lukas und Johannes sind die vier Evangelisten. Ich kenne ein kleines Verschen, das ich dir beibringen werde, damit du dir die Namen merken kannst, aber heute abend nicht mehr. Gute Nacht, mein Sohn.«
»Gute Nacht, Mama«, sagte Ramses ergeben.
Ich war schrecklich neugierig auf das, was Charity uns sagen wollte, so daß ich es kaum abwarten konnte, bis wir endlich aufbrechen konnten. Doch dann war es soweit. Abdullah war bereits eingeschlafen, doch er erwachte sofort, als wir die Tür öffneten. Wir erklärten ihm, daß wir ein bißchen Spazierengehen wollten und nicht lange wegbleiben würden.
»Ich wüßte gern, weshalb sie einen so abgelegenen Ort gewählt hat«, meinte Emerson, als wir in die Ebene hinausgingen.
»Sie konnte sich ja schlecht mitten im Dorf mit uns treffen, Emerson. Außerdem wußte sie, daß wir heute an der Pyramide gearbeitet haben.«
Mein Herz klopfte vor Aufregung, als wir den Grabungsort erreichten. Die Mauerreste warfen dunkle Schatten, so daß ich im ersten Augenblick nichts erkennen konnte. Doch plötzlich packte ich Emersons Arm. »Dort ist sie! Diesen Umriß würde ich wohl überall in der Welt erkennen, besonders die entsetzliche Haube!«
Einige Augenblicke stand die Figur bewegungslos, doch dann hob sie einen Arm und ging davon.
»Wir sollen ihr folgen!« rief ich.
»Das sehe ich.«
»Wohin geht sie denn, um Gottes willen?«
»Das wird sie uns bestimmt sagen, wenn wir sie eingeholt haben.«
Emerson ging schneller, so daß ich Mühe hatte, ihm zu folgen, aber trotzdem wurde die Entfernung zwischen uns und der dunklen Figur nicht kleiner.
»Verflucht!« schimpfte Emerson. »Es ist ja lächerlich! Will sie bis nach Dahschûr laufen? Ich werde jetzt rufen!«
»Nein, tu das nicht. In der Wüste hört man den leisesten Laut meilenweit. Du würdest jedermann in einer Meile Umkreis aufwecken.«
»So weit sind wir jetzt schon gelaufen!«
»Nicht ganz, Emerson!«
Eine Weile liefen wir schweigend weiter. Allmählich wurde auch ich ärgerlich. Irgendwie schien diese Figur kein Mensch aus Fleisch und Blut zu sein. Mir war unheimlich zumute.
»Kann sie uns für jemand anderen gehalten haben?« fragte ich.
»Nein, unmöglich. Die Nacht ist ziemlich hell, und deine Hosen sind doch wirklich unverkennbar! Außerdem schepperst du wie eine Blaskapelle.«
»Wer weiß … vielleicht brauche ich …«
»Spare deinen Atem, Peabody! Ah, jetzt geht sie nach Osten in Richtung auf das Fruchtland.«
Eine einzelne Palme hatte sich weit in die Wüste vorgewagt. Als die schlanke Figur in deren Schatten verschwand, beschleunigte Emerson seinen Schritt, und ich begann zu rennen.
Sie stand da. Sie erwartete uns. Aber das Gesicht hatte sie abgewandt. Doch dann tauchten aus dem Nichts plötzlich drei Gestalten auf, die in der Dunkelheit kaum zu erkennen waren und sich rasch bewegten. Ich griff nach meiner Pistole – zu spät! Sie hatten uns schon überrumpelt. Ich hörte Emerson schimpfen und dann einen Faustschlag. Danach packten mich grobe
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