Amelia Peabody 05: Der Sarkophag
unwillkürliche Zucken seiner Hände ließen mich einen Schritt zurückweichen.
»Emerson, wenn du jemals Hand an mich legst – zum Zwecke der Freiheitsberaubung, meine ich –, dann wirst du das bis an dein Lebensende bereuen.«
»O ja, das weiß ich, Peabody«, erwiderte Emerson aufgebracht. »Manchmal frage ich mich, ob es die Sache nicht wert wäre; aber wenn ich darüber nachdenke, was du tun könntest – oder nicht tun könntest … Sollen wir nicht besser aufbrechen?«
»Einen Augenblick noch. Was bedeutet dir diese Frau, Emerson? Wann hast du sie kennengelernt? Und –«
»Welche Frau?« fragte Emerson grinsend. »Also, Peabody, verlier jetzt nicht die Nerven, dafür haben wir keine Zeit – und genausowenig für Erklärungen. Ich verspreche dir, du bekommst sie rechtzeitig genug – immer vorausgesetzt natürlich, daß wir dieses nächtliche Abenteuer überstehen, was mir momentan überaus problematisch erscheint. Sollen wir Gargery mitnehmen oder … Nein, ich kann es deinem Gesicht ablesen, daß dich diese Idee nicht sonderlich begeistert. Also dann, nur wir beide – Seite an Seite, Rücken an Rücken, wie gehabt.«
Wie konnte ich diesen Worten widerstehen oder die kräftige gebräunte Hand abweisen, die nach der meinen griff?
Trotz Emersons Versprechen, dem Kutscher eine halbe Krone zu geben, sofern er alles aus seinen Pferden herausholte, trafen wir später als von mir erhofft ein, und wir stritten uns immer noch, als die Droschke das Ende der Savoy Street in der Nähe der Waterloo Bridge erreichte. (Denn dieser strategische Punkt erlaubte mir, den Treffpunkt aus der entgegengesetzten Richtung anzusteuern, womit ein Beobachter sicherlich nicht rechnete.)
»Sie sagte, sie käme allein«, wiederholte ich zum zigsten Male. »Wenn sie bemerkt, daß du mich begleitet hast, taucht sie vielleicht gar nicht auf.«
Emerson mußte die Logik einsehen, doch die von ihm vorgeschlagenen Lösungsansätze waren entweder nicht durchführbar oder zu aufwendig. Es war undenkbar, daß man ihn für mich hielt, selbst wenn er einen weiten Umhang und eine dieser altmodischen Hauben getragen hätte. Schließlich erklärte er sich (widerwillig) mit der einzig vernünftigen Vorgehensweise einverstanden – nämlich der, daß er mir in einiger Entfernung folgte und versuchte, ein Versteck in der Nähe des Obelisken zu finden.
Ich hatte ihn überredet, den Bart wegzulassen. Mit hochgeschlagenem Mantelkragen und tief in die Stirn gezogener Kappe ging er vielleicht als streunender Vagabund durch, falls der Nebel so dicht war wie von mir erhofft (obwohl ich gestehen muß, daß es ihm niemals gelungen wäre, mich oder irgendeine andere Frau irrezuführen, deren Blick aufgrund ihrer tiefen Zuneigung geschärft war). Leider war die Nacht bis auf einige über dem Fluß hängende Nebelschwaden klar.
Wir beobachteten, wie die Droschke wendete und davonratterte. Emerson ergriff meine Hand.
»Hast du deinen Schirm, Peabody?«
»Wie du siehst«, erwiderte ich und zückte ihn.
Eine rasche und schmerzhafte Umarmung war seine einzige Antwort. Wortlos bedeutete er mir, ihm zu folgen.
Von der Brücke, die direkt über uns war, drang das Rattern und Rumoren des Verkehrs an meine Ohren, das sich mit dem Pfeifen der Lokomotiven vermischte, die am gegenüberliegenden Flußufer in den Bahnhof Waterloo einfuhren. Genau vor mir lag der von hellen Gaslampen beleuchtete Damm. Sie hingen an schmiedeeisernen Stangen, die im Abstand von ungefähr 20 Metern angebracht waren; von meinem Standort aus bildeten sie ein schimmerndes Lichtband, das von dem dunklen Gewässer reflektiert wurde.
Ich ging los und hielt mich so weit wie möglich von den Lichtern entfernt. Ich war nicht die einzige Passantin; nachdem ein untersetztes, ungepflegtes männliches Individuum stehenblieb und mich offensichtlich ansprechen wollte, funktionierte ich meinen Schirm in einen Gehstock um und schlurfte so langsam wie eine alte Tattergreisin weiter. Rechter Hand und über mir schimmerten die hellen Lichter der belebten Straße. Zu meiner Linken befand sich der plätschernde Fluß; und vor mir erhob sich die spitze Form dieses einfachen und doch so beeindruckenden, von Menschenhand geschaffenen Monuments vor dem sternübersäten Himmel – der Obelisk, der einst einen Tempel im sonnigen Ägypten geziert hatte. Jetzt stand er, umhüllt von feuchtem Nebel, neben dem dunklen Fluß; und mir schoß durch den Kopf, wie seltsam ihm seine Umgebung doch hätte vorkommen
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