Amelia Peabody 05: Der Sarkophag
Laudanum in den Tee zu mischen, da mir bewußt war, daß sein ruheloser Geist ansonsten keinen Schlaf gefunden hätte.
Sosehr ich mich auch bemühte, zur mentalen Entspannung zu finden, kreisten meine Überlegungen doch immer wieder um das Grauen dieses denkwürdigen Abends. Alptraumhafte Bilder tauchten vor meinem geistigen Auge auf; die totenstarren Augen Ayeshas, die ihr Leben für uns aufs Spiel gesetzt hatte – jedenfalls für einen von uns; das unvergleichlich erlösende Fluchen meines geliebten Emerson, als er das Bewußtsein wiedererlangte und feststellte, daß ihm sein Gegner erneut entwischt war; das pausbäckige und gerötete Gesicht des verblüfften Schutzmannes, der einen kleinen Straßendieb verfolgt hatte und sich mit einer Leiche konfrontiert sah, einem Verletzten und einer Frau, die aufgrund ihrer Besorgnis und ihres Beinaheerstickungstodes auch keine sonderlich gute Figur abgab …
Trotz der sofortigen und kompetenten medizinischen Betreuung, die man mir und Emerson hatte angedeihen lassen, schmerzte meine Kehle immer noch. Doch dieser Schmerz war nichts im Vergleich zu meinen Seelenqualen. Ich hatte mich geirrt. Ja, ich – Amelia Peabody Emerson – hatte es versäumt, die eindeutigen und logischen Schlüsse zu ziehen, die im Zuge kriminalistischer Ermittlungen unerläßlich sind.
Ich glaube, daß das gewissermaßen entschuldbar ist. Die Ereignisse dieses aufregenden Tages hatten sich mit einer so verblüffenden Schnelligkeit überlagert, daß ich nicht die Gelegenheit hatte, sie zu überdenken. Dennoch war mir bewußt, daß darin nicht der eigentliche Grund für mein Versagen lag. Eifersucht hatte meinen Verstand getrübt; Mißtrauen hatte mein logisches Denkvermögen beeinträchtigt. Wie zutreffend sind doch die überlieferten Worte, daß die Eifersucht so grausam ist wie das Grab und daß ihre Glut ein schreckliches Feuer entfacht.
Erneut beugte ich mich über Emerson und drückte meine Lippen auf seine verletzte Stirn. Der Mediziner war gezwungen gewesen, ihm einen Teil seiner Haare wegzurasieren, bevor er die aufklaffende Kopfwunde verband. Eine seiner glänzenden schwarzen Locken verwahrte ich in einem Medaillon an meinem Busen, denn ich hatte sie von dem (ziemlich schmutzigen) Boden aufgehoben und mir geschworen, sie immer zu tragen, um mich daran zu erinnern, daß ich beinahe das Liebste in meinem Leben verloren hätte. Niemals wieder würde ich ihm mißtrauen. Niemals!
Nachdem ich die zärtliche Geste und meinen Schwur mehrmals wiederholt hatte, spürte ich, daß ich zur Ruhe gefunden hatte und meine logischen Gedankengänge wiederaufnehmen konnte. Ich begann mit Miss Mintons Enthüllungen. Es war kein Zufall, daß die Polizei exakt jene Stunde und jenen Abend gewählt hatte, um besagter Opiumhöhle einen Besuch abzustatten. Miss Minton hatte den Hinweis einem Kollegen gegeben; dieser wiederum hatte die Polizei informiert. Hatte er sie gewarnt, daß er ebenfalls dort sein würde, oder hatte er zu anderen Mitteln gegriffen, um sie zu einer Ermittlung zu bewegen? Je länger ich darüber nachdachte, um so überzeugter war ich, daß letzteres zutraf. Unsere Gegenwart war so lange unbemerkt geblieben, bis Emerson sich mit der ihm eigenen Vitalität zu erkennen gegeben hatte. Die Tatsache, daß die Polizei einem – sicherlich von einem Mitglied der Presse wohlformulierten – Hinweis so bereitwillig nachging, ließ sehr stark vermuten, daß sie Ayesha und ihr Etablissement schon zuvor verdächtigt hatten.
Der verfluchte Inspektor Cuff hatte mich hinters Licht geführt. Er hatte Ahmet nie für den Mörder gehalten. Er hatte den Mann aus zwei Gründen inhaftiert: zum einen, um Betroffenheit und Entsetzen unter seinen Bekannten auszulösen in der Hoffnung, daß er damit einen unüberlegten Schritt oder eine belastende Stellungnahme provozierte; zum zweiten, weil er erwartete, daß dieser gutunterrichtete Informant unter dem Druck des Polizeiverhörs nützliche Informationen preisgeben könnte. Was wußte Cuff? Das konnte ich nicht einschätzen, dennoch war mir eines klar: Falls Cuff davon ausging, daß der von ihm gesuchte Mann Engländer und ein Mitglied des Adels war, würde er extrem vorsichtig agieren. Gegen einen solchen Mann Anklage zu erheben bedurfte unwiderlegbarer Beweise.
Daß Ayesha die Wahrheit gekannt hatte, hatte sie mit ihren eigenen Worten bestätigt. »Er« hatte ihr befohlen, mich in eine Falle zu locken. Ihre ablehnende Haltung gegenüber der Ausführung dieses
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