Amelia Peabody 05: Der Sarkophag
Geschichte?«
»Das erscheint mir offensichtlich«, entgegnete Emerson.
»Ist es auch.«
»Würde es dir etwas ausmachen –«
»Noch nicht. Uns fehlen nach wie vor ein bis zwei wichtige Beweisstücke. Warst du nicht derjenige, der behauptet hat, daß es ein Kapitalfehler ist, Theorien aufzustellen, bevor man nicht alle Fakten kennt?«
»Nein, war ich nicht. Welche Beweise fehlen uns?«
»Nun – hier ist eine Frage, die du ausgelassen hast.« Ich nahm einen Bleistift, brachte einige Sätze zu Papier und reichte ihm das Blatt.
Frage: »Wer ist der Mann mit dem Turban, der Professor Emerson aufsuchte, und wohin sind die beiden gestern gegangen?« Was ist zu tun: »Professor Emerson fragen.«
Emerson zerknüllte den Bogen. »Verflucht, Peabody!«
Ich hielt meine Hand hoch. »Warte, Emerson. Ich habe heute abend geschworen, daß ich nie wieder an deiner Liebe zweifeln werde. Tue ich auch nicht. Aber, mein geliebter Emerson, das war mein einziges Versprechen. Wenn du mir Beweise vorenthältst –«
»Nimm noch einen kleinen Whiskey, Peabody.«
»Nein, danke, ich glaube nicht.«
»Dann genehmige ich mir noch einen«, brummte Emerson und schritt zur Tat. »Hör mir zu, Peabody. Ich enthalte dir keinerlei Beweis vor. Die von dir erwähnte Person weiß nichts und hat mir nichts berichtet, was auch nur im entferntesten hilfreich bei der Klärung des Falles sein könnte.«
»Warum sagst du mir dann nicht, wer er ist und was er wollte?«
»Weil er … weil ich … ich ihm mein Ehrenwort gab, Peabody. Ich schwor ihm, daß ich keiner Menschenseele anvertrauen würde, was gestern nachmittag vorgefallen ist. Willst du mich zwingen, meinen feierlichen Eid zu brechen?«
»Tauchten die Worte >für immer< und >niemals< in dem von dir abgelegten Eid auf, Emerson?«
Emerson brach in schallendes Gelächter aus. »Ja, meine geliebte Peabody. Ich erinnere mich sogar, daß Begriffe wie >ewiges Schweigen< eingestreut wurden. Gelegentlich können Menschen so verflucht theatralisch sein …« Dann wurde er wieder ernst. »Meine Liebe, es macht den Anschein, als sähen wir uns soeben einer Prüfung des von dir erwähnten tiefen Vertrauens ausgesetzt. Der Test stammt nicht von mir, aber bitte: Wirst du zu deinem Wort stehen und nicht versuchen, meines zu brechen? Denn du weißt genau, daß dir das gelänge, Peabody. Ich kann einfach nicht widerstehen, wenn du es versuchst.«
»Mein geliebter Emerson, wie kannst du nur annehmen, daß ich etwas Derartiges versuchen würde?«
Emerson nahm mich in seine Arme.
Einen Augenblick verharrten wir in inniger Umarmung. Emersons Kinn ruhte auf meinen Kopf. Sein Gesicht konnte ich nicht sehen, hätte aber alles dafür gegeben, dessen Ausdruck zu beobachten. Ich hatte keinerlei Zweifel daran, daß er heimlich irgend etwas plante.
Durch die Stille drang das leise Schlagen der Uhr im Salon. Emerson machte eine vorsichtige Bewegung. »Es ist bald Teezeit«, sagte ich.
»Hmmm, ja. Der Tag ist wie im Fluge vergangen. Ich nehme an, wir werden diese gräßlichen … diese Kinder nach unten holen?«
»Wie unfreundlich von dir, Emerson.«
»Es sind wirklich überaus langweilige Kinder, Peabody.«
»Ich weiß. Aber wir haben uns bereit erklärt, sie zu uns zu nehmen und unser Bestmögliches für sie zu tun, und wir müssen Wort halten, Emerson.«
Emerson umschlang mich fester. »Wir haben noch eine halbe Stunde Zeit, Peabody. Wenn wir umgehend nach oben gingen … Ich könnte die Tortur wesentlich gelassener auf mich nehmen, nachdem …«
Vermutlich hätte ich es besser wissen sollen. Aber ich bezweifle, daß eine der geschätzten Leserinnen in der gegebenen Situation anders reagiert hätte, die eine Reihe der kleinen Gesten beinhaltete, für die ich in jeder Situation empfänglich bin und die in diesem Augenblick besonders liebevoll waren.
Als wir Arm in Arm aus dem Salon traten, bemerkte ich Gargery hinter dem Treppenaufgang, und er grinste wie ein sentimentaler Idiot; dann sah ich jedoch nichts mehr, weil mich Emerson in seiner vermutlich zärtlichen Ungeduld hochhob und die Treppe hinaufeilte. Er war so ungeduldig, daß er nicht einmal die Tür schloß, und ich rief: »Emerson, meinst du nicht … ein wenig Privatsphäre …«
»O ja«, erwiderte Emerson schwer atmend. »Einen Augenblick –«
Ohne auf überflüssige Details wie meine augenblickliche Lage eingehen zu wollen, möchte ich lediglich betonen, daß ich nicht sah, wie er die Tür schloß. Allerdings hörte ich es. Und dann
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