Amelia Peabody 05: Der Sarkophag
hörte ich ein weiteres Geräusch, das mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Der Schlüssel wurde im Schloß herumgedreht.
Ich sprang aus dem Bett. Ich war allein. Ich hörte die davoneilenden Schritte; er machte sich nicht einmal die Mühe, auf Zehenspitzen davonzuschleichen. Eine Drehung des Türknaufs bestätigte, was ich insgeheim wußte. Er hatte mich eingesperrt.
Ich stürmte zum Fenster und öffnete die Vorhänge. Ich sah noch, wie er das Haus verließ. Draußen war immer noch heller Tag, auch wenn die Schatten bereits länger wurden. Während er in Riesenschritten marschierte, schlug er seinen Mantelkragen hoch. Er trug keine Kopfbedeckung. Am Tor drehte er sich kurz um und blickte zum Fenster.
Ich bezweifle, daß er mich bemerkte, da das Sonnenlicht genau auf die Hausfront fiel und sich von daher in den Fenstern spiegelte. Trotzdem mußte ihm bewußt sein, daß ich dort oben stand. Er führte seine Hand an die Lippen und warf mir einen Kuß zu. Dann stürmte er los und war innerhalb von Sekunden verschwunden.
Wie lange ich am Fenster stehenblieb, übermannt von Empfindungen, an die ich mich nur ungern erinnere, kann ich nicht sagen; aber es dauerte vermutlich kaum länger als eine Minute, bis ich das Klappern des Schlüssels im Schloß und Gargerys Stimme vernahm.
»Madam, Mrs. Emerson, sind Sie da?«
»Wo sollte ich sonst sein, Sie Idiot?« entgegnete ich. »Öffnen Sie sofort die Tür.«
»Ja, Madam, gewiß. Genau das bat mich der Professor zu tun. Aber ich verstehe nicht …« Die Tür sprang auf. »Ich verstehe nicht, was hier vor sich geht«, fuhr Gargery fort. »Er sagte, das Schloß klemme, und er wollte Werkzeug holen. Aber warum ist die Tür überhaupt abgeschlossen und Sie befinden sich im Zimmer und der Professor draußen?«
»>Draußen< ist das Schlüsselwort, Gargery, falls Sie mir ein übles Wortspiel verzeihen. Vermutlich hat er nicht erwähnt, wohin er wollte?«
»Werkzeug holen, Madam. Er …« Verwirrt riß Gargery den Mund auf. »Zum Teufel!« entfuhr es ihm. »Er ist uns doch nicht etwa entwischt, oder?«
»Mit Sicherheit ist er das«, erwiderte ich mit einem Anflug von Bitterkeit. »Er hat uns überaus geschickt an der Nase herumgeführt, Gargery – uns beide. Machen Sie sich nichts draus.« Denn Gargery schlug sich mittlerweile mit der geballten Faust vor die Stirn und bediente sich einer Ausdrucksweise, die ich ihm niemals zugetraut hätte. »Es war nicht Ihr Fehler – und ich entschuldige mich dafür, daß ich Sie als Idiot bezeichnet habe, Gargery. Wenn Sie einer sind, dann bin ich ein noch größerer.«
»Oh, Madam.« Gargery nahm einen langen, geräuschvollen Atemzug und faßte sich wieder. »Verzeihen Sie – ich befürchte, daß ich mich im Eifer des Gefechts habe gehenlassen. Vermutlich hat es keinen Sinn, ihm zu folgen?«
»Nein, seine Flucht ist ihm hervorragend gelungen. Wir können nur warten und uns der Tätigkeit widmen, für die die englische Bevölkerung so berühmt ist. Es wird Zeit für den Tee, Gargery. Ich komme umgehend nach unten.«
»Ja, Madam.« Gargery nahm Haltung an. »Darf ich noch sagen, Madam …«
»Nein, Gargery, besser nicht. Denn mein Nervenkostüm zeigt bereits Risse, und ich würde es vorziehen, meinen Gefühlen unbeobachtet freien Lauf zu lassen.«
Gargery entfernte sich.
Natürlich brach ich weder in Hysterie noch in Tränen aus. Das ist nicht meine Art. Ich war nicht einmal wütend auf Emerson. Er beklagte sich ständig über seine Unfähigkeit, mich davor zu bewahren, daß ich mich kopfüber in irgendwelche Gefahren stürzte, aber das war nur ein kleiner Scherz; er hatte noch nie ernsthaft versucht, mich von irgend etwas abzuhalten. Er mußte verzweifelt sein, wenn er zu einer solchen List griff, die, wie er wußte, heftige Zurechtweisungen meinerseits nach sich ziehen würde … Oh, mein geliebter Emerson, dachte ich – meine Nerven gingen für Sekundenbruchteile mit mir durch –, komm nur heil und gesund wieder, und ich werde kein Wort darüber verlieren.
Ich zwang mich, mich hinzusetzen und meinen Kopf statt meines Herzens zu strapazieren. Natürlich hatte ich nicht die Absicht, tatenlos herumzusitzen und auf Emersons Rückkehr zu warten. Ich hatte keine Vorstellung, wo er hingegangen sein könnte. Allerdings hatte ich seinen versteckten Andeutungen entnommen, daß er und ich dieselbe Spur verfolgten, soweit es die Aufklärung des Mordfalles betraf. Offensichtlich wußte er mehr als ich – oder dachte es zumindest.
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