Amelia Peabody 05: Der Sarkophag
Schockzustand versetzt und mich nicht minder bestürzt; doch bei näherer Überlegung mußte ich mir eingestehen, daß eine solche Frühreife keineswegs erstaunlich war; Ramses hatte die meiste Zeit seines Lebens unter Ägyptern zugebracht, die wesentlich früher als die Europäer heranreifen und oft schon im Kindesalter verheiratet werden. Ernste Vorträge hatten (so hoffte ich) Ramses davon überzeugt, daß es ratsam war, seine Neugier in der Öffentlichkeit zu bezähmen. Verlassen konnte ich mich darauf allerdings nicht.
James verschwendete keine Zeit. Wir waren immer noch beim Auspacken, als er mit seinen Kindern eintraf, und ein böswilliger Mensch hätte vielleicht vermutet, daß er froh war, sie loszuwerden, denn er verabschiedete sich in aller Eile und blieb nicht einmal zum Essen. (In der Tat hatte ihn auch niemand dazu eingeladen.) Auf meine Aufforderung hin winkten die Kinder ihrem Vater pflichtschuldig nach, doch die beiden jungen Gesichter blieben völlig emotionslos, als die Kutsche die Auffahrt hinunterfuhr.
Es waren hübsche Kinder – wesentlich hübscher, als ich vermutet hatte, schließlich kannte ich ihre Eltern. Percy hatte braunes Haar, und ich bildete mir ein, daß er mir irgendwie ähnlich sah. Seine Schwester war blond und schien mit ihren Pausbacken, dem kleinen Schmollmund und den riesigen, völlig leeren blauen Augen eher auf ihre Familie mütterlicherseits zu kommen. Diese Attribute sind für eine erwachsene Frau nicht unbedingt wünschenswert, bei einem Kind wirken sie jedoch ganz reizend. Ramses fand sie mit Sicherheit faszinierend. Er starrte sie in seiner unterkühlten, unverhohlenen Art an, bis sie zu kichern anfing und sich hinter ihrem Bruder versteckte.
Mit Ausnahme ihres Kicherns – was mir vermutlich schon bald auf die Nerven gehen würde – hatte ich an ihrem Benehmen nichts auszusetzen. Percy redete Emerson mit »Sir« an (manchmal so übereifrig, daß er das Wort jedem Satz hinzufügte) und mich als die »liebe Tante Amelia«. Violet sagte nur wenig, was mich aufgrund meiner Erfahrung angenehm überraschte.
Kurz gesagt, der erste Eindruck war positiv, und es freute mich zu hören, daß mir Emerson zustimmte, als wir uns beim Abendessen austauschten. »Für einen Jungen mit dem unglückseligen Namen Percival Peabody hätte es schlimmer kommen können«, lautete seine Einschätzung von Percy, und Violet bezeichnete er als »hübsche kleine Wachspuppe«. »Auf mich wirkt sie ein bißchen beschränkt«, fügte er liebenswürdigerweise hinzu. »Aber das scheint bei den kleinen Mädchen heutzutage nicht ungewöhnlich zu sein. Das wirst du ihr rasch abgewöhnen, Peabody.«
Während der folgenden Tage nach unserer Rückkehr beglückwünschte ich mich für meine weise Voraussicht, jugendliche Gefährten für Ramses ins Haus geholt zu haben, denn die ständigen Unterbrechungen und Eskapaden, die sein Verhalten bislang gekennzeichnet hatten, hätten mich irgendwann in den Wahnsinn getrieben. Emerson hatte sich unter Androhung unsäglicher Bestrafung für denjenigen, der ihn zu stören wagte, in der Bibliothek eingeschlossen, und ich beschäftigte mich von morgens bis abends mit den zahllosen Kleinigkeiten, die eine lange Abwesenheit und die geplante neuerliche Abreise mit sich bringen. Das Wetter war herrlich, so daß die Kinder sich die meiste Zeit im Freien aufhielten.
Natürlich passierten einige Mißgeschicke, aber damit muß man rechnen, wenn Kinder ausgelassen herumtollen – insbesondere wenn es sich bei einem der Kinder um Ramses handelt. Ein Treppensturz handelte ihm eine riesige, blutunterlaufene Beule an der Stirn ein, und er gab unumwunden zu, die kleine Violet an seiner Seite so fasziniert angestarrt zu haben, daß er nicht auf die Stufen geachtet habe. Ein weiterer Vorfall war etwas schwerwiegender und gab mir (ich darf das auf den Seiten dieses persönlichen Tagebuchs eingestehen) doch zu denken.
Geschrei und Gebrüll in der Nähe der Haustür ließen mich von meinem Stuhl aufspringen, in dem ich gesessen und die Haushaltsbücher des vergangenen Winters überprüft hatte. Ich stürmte in der Hoffnung in die Eingangshalle, daß ich den Aufruhr niederschlagen könnte, bevor sich Emerson gestört fühlte, ließ jedoch jede zweitrangige Überlegung außer acht, als ich die reglose Gestalt meines Sohnes in den Armen von John bemerkte. Er hatte die Augen verdreht, und sein Atem ging in kurzen, rasselnden Stößen.
Violet war ein beinahe ebenso schwerwiegender Fall. Es
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