Amelia Peabody 05: Der Sarkophag
Vergeltungsschlag gegen die Ägyptologen –«
»Dann bin ich also nicht die einzige, der dieser Gedanke gekommen ist«, entfuhr es mir. »Ha! Das ist die einzig plausible Erklärung, Ihre Lordschaft. Aber ist denn noch irgend etwas passiert, was meine Theorie untermauern würde? Irgendwelche Mordanschläge oder Drohbriefe?«
»Meines Wissens nicht«, erwiderte Seine Lordschaft gedehnt. »Aber der Empfänger eines anonymen Briefes würde sich vielleicht nicht zu erkennen geben, da er befürchtete, sich der Lächerlichkeit preiszugeben.«
»Korrekt. Trotzdem habe ich allen Grund zu der Vermutung –«
An diesem Punkt wurden wir von dem Familienmitglied unterbrochen, mit dem ich am allerwenigsten gerechnet hatte: meinem ungehorsamen Sprößling Ramses. Er riß die Tür auf und blieb dort völlig außer Atem stehen.
Ich sprang auf. »Ramses, du solltest doch auf deinem Zimmer bleiben.«
»Ich bin davon ausgegangen … daß der Ausnahmezustand Vorrang hatte«, erwiderte Ramses kurzatmig. »Mama, mein Zimmer –«
»Geh sofort wieder nach oben.«
»In meinem Zimmer brennt es«, sagte Ramses.
Das war tatsächlich der Fall. Als ich in die Eingangshalle trat, hörte ich die aufgeregten Schreie aus dem Obergeschoß und nahm den durchdringenden Geruch von verkohltem Leinen wahr. Als ich die Treppe hinaufeilte – Seine Lordschaft und Ramses waren mir dicht auf den Fersen –, fand ich einige aufgeregte Bedienstete an der Tür zu Ramses’ Zimmer vor, während einer der Diener, tatkräftig von Percy unterstützt, die rauchgeschwärzten, glimmenden Vorhänge herunterriß.
Eine rasche Überprüfung versicherte mir, daß kein großer Schaden entstanden war und daß rasche Überlegung und noch rascheres Handeln das Schlimmste verhindert hatten. Als ich das gegenüber dem Diener zum Ausdruck brachte, erwiderte dieser: »Danken Sie dem jungen Herrn, Madam. Als ich kam, hatte er das Feuer bereits gelöscht.«
Percy hatte sich bescheiden in eine Ecke zurückgezogen. Seine Hände und sein Gesicht waren rauchgeschwärzt, trotzdem versicherte er mir, daß er sich nicht verbrannt habe. »Es war nur ein kleiner Brand, Tante Amelia. Weißt du, ich half Ramses bei einem chemischen Experiment. Es war mein Fehler, da ich den Bunsenbrenner umstieß. Ich übernehme die volle Verantwortung.«
In der Erwartung, daß dieser Satz die üblichen Auswirkungen zeitigte, packte ich mir Ramses; doch er blieb reglos stehen und warf Percy einen seltsam abschätzigen Blick zu. »Die Verantwortung geht zu meinen Lasten«, meinte er mit ruhiger Stimme. »Ich hätte Percy nicht erlauben dürfen, mir bei meinem Experiment zu helfen.«
»Welches Experiment? Nein, sag jetzt nichts, ich will es gar nicht wissen. Nun, Ramses, ich hatte dir nicht verboten, einen Gast in deinem Zimmer zu haben. Da ich allerdings niemals damit gerechnet hatte, daß du chemische Experimente durchführen könntest, vergaß ich, dir den Bunsenbrenner wegzunehmen; von daher nehme ich an, daß ich dich nicht zur Verantwortung ziehen kann. Du kannst deinem Cousin dankbar sein, daß du so glimpflich davongekommen bist.«
Ramses’ Lippen bewegten sich, da er sich jedoch nicht laut äußerte, nahm ich keine Notiz davon.
Seine Lordschaft stand an den Türrahmen angelehnt und kicherte leise. »Diese beiden Burschen sind mir recht sympathisch, Mrs. Emerson. Welcher ist Ihr Sohn?«
Ich stellte ihm die Jungen vor, die mit dem für sie charakteristischen Benehmen reagierten: Percy mit einer Verbeugung und der Entschuldigung, daß er ihm nicht die Hand schütteln könne – er zeigte ihm die rußgeschwärzte Handfläche zum Beweis; und Ramses mit einem langen, unverschämten Blick, der Seine Lordschaft von Kopf bis Fuß taxierte. Als er gerade zu einem seiner ausufernden Monologe ausholen wollte, ließ ein durchdringendes Kreischen aus dem Flur sämtliche Köpfe in diese Richtung schnellen. Dem schloß sich die vertraute, gräßliche Aussage an: »Tot, tot, oh, mausetot …«
»Zum Teufel mit diesem Kind«, sagte ich, ohne auf meine Wortwahl zu achten. »Ruf sie, Percy, und erkläre ihr, daß du nicht verletzt bist, bevor sie noch irgendwelche Anwandlungen bekommt.«
Allerdings war es Lord St. John, der das Kreischen abrupt unterbrach, indem er das auf ihn zustürmende Pummelchen tröstend in die Arme schloß. »Pst, meine Kleine«, sagte er sanft. »Niemand ist tot; es war nur ein kleiner Brand, und dein lieber Bruder ist völlig unverletzt.«
Violets Kreischen verstummte
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