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Amelia Peabody 05: Der Sarkophag

Amelia Peabody 05: Der Sarkophag

Titel: Amelia Peabody 05: Der Sarkophag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Peters
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augenblicklich. Während ich beobachtete, wie sie kichernd ihre Arme um Lord St. Johns Hals legte, war ich versucht, sie von ihm loszureißen und sie nach Herzenslust zu schütteln.
    »Geh sofort auf dein Zimmer, Violet«, sagte ich streng. »Lassen Sie sie los, Mylord; es tut mir leid, daß Sie einem solchen Schauspiel beiwohnen mußten.«
    Seine Lordschaft drückte Violet. Sie quietschte vor Vergnügen. »Sie müssen sich doch nicht entschuldigen, Mrs. Emerson. Ich liebe Kinder. Insbesondere kleine Mädchen.«
     
    Mein geliebter Emerson behauptet von sich, daß er die Werke Mr. Dickens’ verabscheut (»Mit Ausnahme von dir, Peabody, ist er der sentimentalste Widerling, der mir jemals begegnet ist«), trotzdem bemerke ich häufig, daß er ihn zitiert. Als wir am Sonntag morgen am Frühstückstisch saßen, ließ er sich in übelster Form über den englischen Sabbat aus, und obgleich er seine Quelle nicht nannte, erkannte ich, daß es sich um eine Passage aus einem von Dickens’ Romanen handelte.
    »Alles, was der schwer arbeitenden Bevölkerung die Möglichkeit zur Zerstreuung hätte bieten können, war geschlossen oder verboten … Weit und breit nichts als menschenleere Straßen. Beklemmende Straßenfluchten … Nichts, was der Müßiggänger hätte tun können, als die Monotonie des siebten Tages mit der seiner sechs Arbeitstage zu vergleichen, sein trauriges Leben zu überdenken und das Beste daraus zu machen – oder, gemessen an seinen Möglichkeiten, das Schlimmste.«
    Emerson (und Mr. Dickens) hatten recht. Der Sabbat sollte natürlich der Ruhe, dem Nachdenken und der Auseinandersetzung mit höheren Idealen dienen; doch dieselben Menschen, die nichts Verwerfliches in einer Kutschfahrt zur Kirche und in einem delikaten, von ihren Bediensteten zubereiteten Mittagsmahl sahen, sträubten sich vehement dagegen, der Arbeiterklasse den Zugang zu Bildung oder irgendeine Zerstreuung zu gewähren – einschließlich des Britischen Museums, was meiner Meinung nach der Hauptgrund für Emersons Unzufriedenheit war.
    Natürlich wollte Ramses wissen, was Mr. Dickens mit »das Schlimmste« gemeint hatte. Auf meinen Rat hin verweigerte ihm Emerson die Antwort.
    Emerson besucht nie die Kirche, da er sämtliche Religionsformen verabscheut. Wenn wir zu Hause in Kent weilten, nahm ich Ramses immer mit, obgleich er vermutlich kaum von der Predigt profitierte, da der geschätzte, alte Mr. Wentworth, seit Urzeiten Vikar an der St. Winifred, so unverständlich nuschelte, daß man kein einziges Wort verstand. Allerdings wirkte seine sanfte Stimme überaus beruhigend, und die Kirchgänger nutzten die Zeit, um zu dösen oder in sich zu gehen.
    An diesem Sonntag nahm ich die Kinder mit zur St. Margaret in Westminster, um der Andacht von Erzdiakon Frederick William Farrar beizuwohnen, der als einer der berühmtesten Prediger der Gegend galt. Es handelte sich um einen überaus erbaulichen Diskurs, und ich hoffte, daß das Thema »Nächstenliebe« Wirkung auf meine zerstrittenen Begleiter zeigte, denn meine Überredungskünste hatten mich an den Rand der Geduld gebracht. Violet war meine schlimmste Widersacherin. Ihr wütendes Kreischen war bis in mein Ankleidezimmer gedrungen; als ich ihr Zimmer erreichte und schon damit rechnete, daß ihr Ramses eine mumifizierte Maus oder irgendeinen alten Knochen (aus seiner Schätzesammlung) geschenkt hatte, fand ich das Kindermädchen in einer Ecke kauernd vor, und Violet trampelte auf einem Berg von zerknüllten Kleidungsstücken herum und kreischte ununterbrochen, daß sie zu häßlich, zu eng oder zu verknautscht seien. Das entsprach zu diesem Zeitpunkt sicherlich der Wahrheit. Das Thema Bekleidung gehörte zu den wenigen Interessen, die sie aus ihrer brütenden Lethargie rüttelten; doch schon vor jenem Zwischenfall waren mir ernste Zweifel gekommen, ob für eine Läuterung Violets meine Kräfte ausreichten.
    Allem Anschein nach zeigte die Predigt keine erkennbare Wirkung. Während des Heimwegs jammerte Violet ununterbrochen über ihr Kleid, und Ramses nannte Percy einen verfluchten Koprolithen.
    »Woher hast du denn das Wort?« wollte ich wissen.
    »Von einem Londonführer aus der Bibliothek«, erwiderte Ramses. »Aufgrund deiner Anregung habe ich versucht, meine Interessen zu verlagern, und dabei bin ich auf den Satz gestoßen: >Die oberste Schicht des Ufergesteins besteht aus einem rötlichgelben Lehm, der Koprolithen enthält.< Da ich mich ständig bemühe, meinen Wortschatz zu erweitern,

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