Amelia Peabody 05: Der Sarkophag
religiöse Einstellung –«
Emerson packte mich am Handgelenk. »Welche religiöse Einstellung? Irgendwelche Skrupel? Peabody, du weißt genau, daß du keine hast.«
»Nicht, wenn Pflicht- und Ehrgefühl im Spiel sind«, erwiderte ich – etwas außer Atem, da mich Emerson im Eilschritt hinter sich herzog. »Alle anderen Überlegungen sind dann zweitrangig – Emerson, bitte, diese verfluchten Rüschen … behindern mich.«
Ohne seine Schritte zu verlangsamen, nahm mich Emerson mitsamt meiner Rüschen und Spitzen auf den Arm und stürmte die Stufen hinauf. Als er unser Zimmer erreichte, setzte er mich unsanft auf dem Boden ab. »Peabody«, sagte er und packte mich bei den Schultern, »ich stimme deinem absurden Vorschlag lediglich zu, weil die Alternative noch schlimmer ist – dich in irgendeiner albernen Verkleidung auf meinen Fersen zu wissen. Wovor du sicherlich nicht zurückschrecken würdest, oder?«
»Selbstverständlich nicht.« Ich schlang meine Arme um seinen Hals. »Und du willst es auch gar nicht anders.«
»Ganz recht, meine geliebte Peabody. Was glaubst du, warum ich dich so liebe?«
»Nun«, sagte ich und senkte die Lider. »Ich dachte vielleicht –«
»Erneut richtig, Peabody.« Emerson verpaßte mir einen herzhaften Schmatzer auf den Mund, dann ließ er mich los und fing an, sich sein Jackett herunterzureißen. »Beeil dich, Peabody, sonst muß ich dich hierlassen.«
Das gespenstische Licht der Gaslaternen schimmerte durch den Nebel, während wir Hand in Hand durch die Dunkelheit eilten. Ich wage zu behaupten, daß es keine passendere Kulisse für ein schauderhaftes Abenteuer gibt als die gräßlichen, schmutzigen und einsamen Straßen des geliebten alten London. Ich war bei Nacht durch die abgelegenen Gassen der Kairoer Altstadt geschlendert und hatte gesichtslose Schatten in der nur vom Sternenlicht erhellten Wüste verfolgt; diese Erlebnisse hätte ich gegen nichts in der Welt eintauschen wollen, und jetzt stand uns ein weiteres bevor. Zusätzlich zu seinem überaus pittoresken Element ist der Nebel von unschätzbarem Vorteil für diejenigen, die unerkannt verschwinden wollen. Kaum dreißig Meter von unserem Haus entfernt waren wir bereits für jeden Beobachter unsichtbar.
Trotzdem stürmte Emerson im Eiltempo zum Ufer, wo wir eine Droschke nahmen. Die Straßen rund um den St. James’s Square waren menschenleer, als wir jedoch in östliche Richtung vordrangen, eröffnete sich meinem interessierten Blick eine fremde, neue Welt.
Lagerhäuser säumen das östlich der London Bridge gelegene Ufer der Themse. Dort hielt die Droschke an, und Emerson half mir beim Aussteigen. Ich hatte den seltsamen Blick bemerkt, mit dem der Droschkenkutscher Emerson taxierte, als dieser unser Ziel nannte; jetzt wußte ich, warum. Selbst um diese Uhrzeit und am heiligen Sonntag waren die unseligen Bewohner des East End auf der Suche nach Vergnügung und Zerstreuung, bevölkerten in Horden die Schnapsschenken (und – was noch schlimmer war – die düsteren Wege). In eine solch enge Gasse führte mich Emerson. Mir fiel eine weitere solche Nacht in einem völlig anderen Klima ein; die Nacht, in der wir durch die Khan-el-Khaleel-Gasse geschlendert und auf den Leichnam eines Antiquitätenhändlers gestoßen waren, der wie ein Sack Kartoffeln von der Decke seines eigenen Ladens baumelte. Der gleiche widerliche Gestank und die undurchdringliche Finsternis, die gleichen unsäglichen Flüssigkeiten platschten unter unseren Füßen … Wenn überhaupt, dann war der Londoner Gestank lediglich intensiver und vielfältiger. Schlagartig wurde ich von einem fast unbeschreiblichen Gefühl der Zärtlichkeit übermannt.
»Emerson«, hauchte ich, »jetzt ist vielleicht nicht der passende Augenblick für ein solches Geständnis, dennoch ist mir sehr wohl bewußt, mein Lieber, daß nur wenige Männer soviel Vertrauen und Respekt gegenüber ihrer Gattin an den Tag legen wie du, da du mir erlaubst, dich zu begleiten.«
Emerson drückte meine Hand. »Sei still, Peabody. Vergiß nicht, was ich dir gesagt habe.«
Die Warnung war zwar nicht erforderlich gewesen, aber dennoch sinnvoll. Meine Stimme war tief für die einer Frau, aber sie wäre niemals als Männerstimme durchgegangen. Deshalb hatte ich mich einverstanden erklärt, daß Emerson das Reden übernahm und ich mir jegliche Äußerung verkniff.
Eine Treppe führte zu einem rußgeschwärzten Hauseingang. Nachdem er einen Augenblick getastet hatte, fand Emerson den
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