Amelia Peabody 06 : Verloren in der Wüstenstadt
Vortrag über Menschenrechte und die Grundsätze der Demokratie. Zwar reichten meine Sprachkenntnisse nicht, um diesen edlen Idealen gerecht zu werden, aber wahrscheinlich war ihr Unverständnis eher in ihren Vorurteilen als in meiner verbalen Unzulänglichkeit begründet. Also gab ich auf – für den Moment wenigstens.
Als die Stunden vergingen, wurde mir immer unbehaglicher zumute. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß man über unser Verhalten hinweggehen oder es ignorieren würde. Mentarits Frage hatte mir weiterhin bewiesen, wie merkwürdig unser Benehmen diesen vornehmen Adligen erscheinen mußte. Ich erinnerte mich an die Reaktion unseres Nachbarn Sir Harold Carrington und der Mitglieder seiner Jagdgesellschaft, als Emerson sich zwischen sie warf und die Hunde von dem in die Ecke gedrängten Fuchs verjagte. Weniger Zorn als völliges Erstaunen stand ihnen ins Gesicht geschrieben, und einer der Männer meinte, man solle Emerson eine Tracht Prügel verabreichen. (Es muß nicht betont werden, daß er diesen Vorschlag nicht wiederholte.) Etwa dasselbe mußten die hiesigen Adligen empfunden haben, als wir Geschöpfe schützten, die sie als Tiere betrachteten.
Wahrscheinlich hatten wir durch unsere Einmischung unsere Lage nicht verbessert, aber schlimmer hatten wir sie vermutlich auch nicht gemacht – aus dem einfachen Grund, weil es gar nicht schlimmer kommen konnte. Noch immer kannten wir die wahren Absichten der Leute nicht, die uns gefangenhielten. Wir waren höflich behandelt und mit allem möglichen Luxus bedacht worden; allerdings hatten die Azteken und noch viele andere Völker gerade diejenigen Gefangenen verhätschelt, die zum Menschenopfer auserkoren waren. Und zweifellos wären sie sehr erbost gewesen, hätte eines dieser Opfer schon vor der Zeremonie Schaden genommen. Soweit ich informiert war, gab es bei den alten Ägyptern keine Menschenopfer, doch die Zeiten hatten sich geändert – und es waren sehr viele Jahrhunderte vergangen.
An Emersons wachsender Unruhe erkannte ich, daß er mein Unbehagen teilte. Nach dem Mittagessen lief er im Zimmer auf und ab und murmelte leise vor sich hin, ehe er sich in sein Schlafzimmer zurückzog. Ich nahm an, daß er bei seinem Tagebuch Ruhe zu finden suchte. Also wandte ich mich dem meinen zu – denn natürlich machten wir uns alle umfangreiche Aufzeichnungen über dieses Abenteuer. Ich war mir sicher, daß mein weiblicher Standpunkt wertvolle Einblicke beitragen würde. Eifrig schrieb ich vor mich hin, als mich ein Tumult zur Tür eilen ließ. Eine der Stimmen (die lauteste) gehörte Emerson.
Ich fand ihn im Vorzimmer, wo er mit den Wachleuten stritt. Ihre großen Speere versperrten die Tür wie ein eisernes Kreuz, und sie wandten die Gesichter ab, selbst als Emerson jedem von ihnen mit der Faust drohte.
»Komm schon, Emerson«, flehte ich und packte ihn am Arm. »Es ist unter deiner Würde, hier herumzuschreien. Sie gehorchen nur ihren Befehlen.«
»Verdammt«, schimpfte Emerson, doch mein Einwand überzeugte ihn, und er gestattete mir, ihn wegzuführen. »Ich habe nicht geschrieen, Peabody«, fügte er hinzu, während er sich die schweißnasse Stirn wischte.
»Ich habe mich unglücklich ausgedrückt, Emerson. Was hattest du vor?«
»Was wohl? Ausgehen. Ich verstehe nicht, warum auf unser regelwidriges Verhalten im Dorf noch keine Reaktion erfolgt ist. Murteks Entrüstung war doch ein deutlicher Hinweis darauf, daß wir mitten ins Fettnäpfchen getreten sind. Ich kann nicht glauben, daß man einfach darüber hinweggeht, ohne uns wenigstens zu tadeln. Und diese Ungewißheit zerrt an meinen Nerven. Mir ist eine Auseinandersetzung – und sei sie gewalttätiger Natur – lieber als dieses Warten.«
»Ich würde das Warten einer gewalttätigen Auseinandersetzung vorziehen, mein Liebling. Diese Leute sind nicht so dumm, als daß sie nicht wüßten, welche Wirkung das Warten auf Menschen wie uns hat. Vielleicht wird es einige Tage dauern, bis sie reagieren.«
»Sie reagieren bereits«, meinte Emerson mit finsterer Miene. »Die Wachen weigerten sich, mir zu antworten, als ich sie bat, Murtek eine Botschaft zu überbringen. Und schau« – mit einer Geste umschrieb er den Empfangssalon und den dahinterliegenden Garten – »sie sind alle verschwunden. Keine Menschenseele in Sicht. Nicht einmal die Magd.«
Er hatte recht. Versunken in mein Tagebuch, hatte ich nicht bemerkt, daß die Diener gegangen waren. Wir waren allein.
Obwohl es schwierig ist, sich vor
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