Amelia Peabody 06 : Verloren in der Wüstenstadt
Stellung, bis wir vorbei waren. Als wir weitergingen, sah ich weitere Sklaven in den Gärten arbeiten. Teile des Abhangs waren ordentlich in Terrassen eingeteilt, doch andere hatte man dem Unkraut und Dornengestrüpp überlassen. Bruchstücke alter Mauern ragten empor wie faule Zähne. Ich fragte mich, ob die Ruinen Relikte eines früheren Bürgerkrieges waren oder ob sie auf Bevölkerungsrückgang und Rohstoffmangel hinwiesen. Bis zu einem gewissen Grade war der Verfall unvermeidlich. Ein Wunder, daß diese seltsame Kultur überhaupt so lange überlebt hatte. Allerdings waren die Tage ihrer Abgeschiedenheit gezählt, dachte ich mit einem eigenartigen Anflug von Bedauern. Früher oder später würde jemand dieses Tal entdecken – diesmal jedoch kein einsamer Wanderer wie wir oder Willoughby Forth. Die Flutwelle der Zivilisation würde den Heiligen Berg überrollen, und die Speere und Bogen der Wachen waren machtlos gegen moderne Waffen. Wie würde wohl die Zukunft dieses Volkes aussehen?
Die Residenz der Candace – das beeindruckende Gebäude, das ich am Vorabend bemerkt hatte – war der eigentliche Königspalast und grenzte an die westliche Tempelmauer an. Da die Thronfolge noch nicht geklärt war, wurde das Schloß im Augenblick nur von Ihrer Majestät bewohnt – abgesehen von den üblichen Konkubinen, Dienern, Hofdamen und Höflingen. Von meinen Damen hatte ich erfahren, daß die momentane Königin Mutter des Prinzen Nastasen war; Tarek war schon als kleines Kind zum Halbwaisen geworden.
Nach den langwierigen Willkommenszeremonien wurde ich durch eine Reihe von Höfen und Eingangshallen in einen prächtig geschmückten Empfangssalon geführt, wo mich die Königin erwartete. Zu meiner Schande muß ich gestehen, daß mich ihr Anblick – und der ihrer Hofdamen – so entsetzte, daß ich meine guten Manieren vergaß und sie anstarrte.
Mir zu Ehren hatte sich Ihre Majestät in ihr bestes Gewand gehüllt. Auf ihrem Kopf saß ein gewagter kleiner Hut mit einem juwelenbesetzten Falken darauf, dessen Flügel bis hinunter zu ihren Wangen reichten. Zudem trug sie Halsketten und Armbänder aus massivem Gold; geflochtene Fransen schmückten ihr Gewand, das aus durchsichtigem Leinen gefertigt war und weite, plissierte Ärmel hatte. Durch den Stoff konnte man die Dame weitgehendst erkennen. Sie war unglaublich dick, fast so breit wie hoch. Fettwülste umgaben ihren Leib; ihr lächelndes Mondgesicht schien direkt auf den Schultern zu ruhen. Das Gesicht selbst war eigentlich ziemlich hübsch mit fein geschnittenen Zügen, die sehr denen ihres Sohnes ähnelten. Obwohl sie in den fleischigen Wangen versanken, paßten sie besser zu ihr als zu Nastasen, und ihre dunklen Knopfaugen funkelten freundlich und neugierig. Ihre Hofdamen waren ebenso prächtig gewandet und standen ihrer Herrin an beeindruckender Leibesfülle um nichts nach.
Ihre Majestät erhob sich nicht, um mich zu begrüßen – ich nehme an, es hätte zweier oder mehr starker Männer bedurft, um sie auf die Füße zu hieven –, doch sie begrüßte mich mit einer hohen, zwitschernden Stimme und wies auf einen Haufen Kissen, der neben ihr lag. Ich überwand mein Erstaunen mit meiner üblichen Weltgewandtheit. Nachdem ich mich höflich verbeugt hatte, nahm ich Platz.
Da Mentarit uns nicht begleitet hatte, mußte ich ohne Dolmetscherin auskommen. Allerdings erwies sich das eher als Vorteil, da meine Fehler und mein eigentümlicher Akzent die Damen amüsierte – vor allem Ihre Majestät, deren Lachen das Eis brach. Das Lachen war gutartig; die Königin kicherte ebenso fröhlich über ihre eigenen Versuche, mich auf Englisch zu begrüßen. Ich konnte nicht widerstehen, sie nach ihrem Alter zu fragen. Nach längerer Debatte und Abzählen an ihren Fingern und denen ihrer Hofdamen teilte sie mir mit, sie sei zweiunddreißig. Zuerst konnte ich das kaum glauben, aber rasch wurde mir klar, daß sie vermutlich schon im zarten Alter von vierzehn Jahren Mutter geworden war, wie es einigen bedauernswerten Mädchen in Ägypten und Nubien auch heute noch geschieht. Demzufolge mußten Nastasen und Tarek, die im gleichen Jahr geboren waren, achtzehn Jahre alt sein – nach englischen Maßstäben halbwüchsige Burschen, nicht aber in dieser Kultur. Wahrscheinlich hatte man ihnen »die Locke des Knabenalters« noch vor ihrem dreizehnten Geburtstag abgeschnitten.
Die unbeschreibliche Neugier und großzügige Gastfreundschaft Ihrer Majestät verhinderten, daß ich sie weiter
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