Amelia Peabody 06 : Verloren in der Wüstenstadt
ihre Dörfer auf, und wir begaben uns in die Garnison. In der relativen Kühle des Morgens war der Ritt recht angenehm, und als wir uns Sanam Abu Dom näherten, ragte der riesige Berg beeindruckend vor uns auf. Besonders stachen mir einige seltsam geformte Felsenformationen ins Auge, die den großen Statuen von Ramses II. in Abu Simbel ähnelten. Emerson, der den Berg ebenfalls betrachtete, stand das Wort »Gier« deutlich ins ebenmäßige Gesicht geschrieben. »Das ist der gewaltigste Tempel ganz Nubiens, Peabody«, murmelte er. »Ausgrabungen dort würden ohne Zweifel unersetzliche historische Dokumente zutage fördern. Da wir heute sowieso nichts Besseres zu tun haben …«
»Wir haben aber etwas Besseres zu tun«, widersprach ich mit Nachdruck. »Außerdem arbeitet Mr. Budge am Gebel Barkal, und du hast geschworen, dich von ihm fernzuhalten.«
»Pah!« erwiderte Emerson, ganz wie ich erwartet hatte.
Meine Zufriedenheit darüber, daß es mir gelungen war, eine Begegnung zwischen Emerson und Mr. Budge zu verhindern, wurde durch die ärgerliche Entdeckung getrübt, daß auch Mr. Budges Arbeiter ihren freien Tag hatten. Gewiß hatte Mr. Budge deshalb beschlossen, seinen Freunden in der Garnison einen Besuch abzustatten.
Glücklicherweise war Emerson nicht bei mir, als ich besagte Entdeckung machte. Er und Ramses waren ins Dorf gegangen, angeblich, um weitere Männer anzuheuern. Allerdings kannte ich ihre Gewohnheiten und hatte so meinen Verdacht, wie sie sich die Zeit vertreiben würden. Mir war es überlassen worden, unser freundschaftliches Band mit den Militärbehörden zu stärken. Deshalb ritt ich zuerst zur »Kamelklinik« (meine eigene scherzhafte Bezeichnung für diese Einrichtung), denn mein Reittier litt an einer Augenentzündung, deretwegen ich Captain Griffith gern um Rat fragen wollte. Nach einem vergnüglichen und aufschlußreichen Gespräch teilte er mir mit, General Rundle habe von meiner Ankunft erfahren und bäte mich, mit ihm und einigen seiner Offiziere zu Mittag zu speisen. »Und natürlich auch dem Professor«, fügte er hinzu.
»Oh, ich habe nicht die leiseste Ahnung, wo Emerson im Augenblick steckt«, antwortete ich. »Ohne Zweifel ist er bei einem Derwisch, einem griechischen Ladenbesitzer oder einem Beduinenscheich. Ich jedoch nehme die Einladung des Generals gerne an.«
Ich steckte die Salbentube, die er mir gegeben hatte, in einen Beutel an meinem Gürtel. Captain Griffith musterte diesen Ausrüstungsgegenstand neugierig. »Verzeihung, Mrs. Emerson, aber Sie sind offenbar ein wenig … äh … beladen. Möchten Sie Ihre … äh … Ausrüstung vielleicht hierlassen? Bei mir geht nichts verloren, das verspreche ich Ihnen.«
»Mein lieber Captain, ich würde ebensowenig ohne meinen … äh … Hut ausgehen wie ohne meinen Gürtel«, erwiderte ich und hakte mich bei ihm unter, als er mir den Arm bot. »Ich muß zugeben, er macht ein wenig Lärm. Emerson beklagt sich immer, weil ich beim Gehen so klappere und scheppere. Doch jeder dieser Gegenstände hat sich in der Vergangenheit nicht nur als nützlich, sondern gelegentlich sogar als lebensnotwendig erwiesen. Ein Kompaß, eine kleine Wasserflasche, ein Notizbuch, ein Bleistift, ein Messer, eine wasserdichte Schachtel für Streichhölzer und Kerzen …«
»Ich verstehe«, meinte der junge Mann, wobei seine Augen interessiert funkelten. »Warum wasserdicht, wenn ich fragen darf?«
Ich erzählte ihm von der Begebenheit, als Emerson und ich in die Flutkammer einer Pyramide geworfen worden waren. Da der Captain gebannt an meinen Lippen hing, erläuterte ich ihm gleich auch meine Theorie zum Thema angemessene Kleidung bei Ausgrabungen: »Eines Tages«, verkündete ich, »werden Frauen kühn Ihre Hosen für sich beanspruchen, Captain. Damit meine ich allerdings nicht Ihre persönlich …«
Wir beide lachten herzhaft darüber, und der Captain versicherte mir, er habe schon verstanden, was ich ihm hatte sagen wollen. »Ich meinerseits habe es nicht auf sie abgesehen«, fuhr ich fort. »Weite Hosenröcke sind schmeichelhafter für die weibliche Figur und gestatten trotzdem völlige Bewegungsfreiheit. Auch vermute ich, daß sie dank des Luftzugs, der durch ihre Falten fährt, in diesem heißen Klima bequemer sind als Ihre engen Beinkleider.«
Er teilte diese Ansicht durchaus. Unter solch interessanten Gesprächen kam mir der kurze Fußmarsch noch kürzer vor. Der General bewohnte eine »Villa« – zwei Zimmer, einen von einer Mauer umgebenen
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