Amelia Peabody 07: Die Schlange, das Krokodil und der Tod
den armen Walter betraf, so waren seine Nerven wahrscheinlich ebenso zerrüttet wie die der leidgeprüften Mary Ann, obgleich ich es als tröstlich empfand, zu erfahren, daß Evelyn und er sich so ausgezeichnet verstanden.
Ich vertagte diese Überlegungen auf später, um mich mit Ramses’ wichtigster Mitteilung zu befassen. Die Vorstellung, daß Rose, Evelyn und Ramses sich verschworen hatten, um ein verräterisches Stubenmädchen hinters Licht zu führen, war so köstlich, daß ich meinem mißratenem Kind fast alle seine Sünden vergeben hätte – abgesehen von seinem pompösen Schreibstil. Doch bald schlich sich ein ernüchternder Gedanke ein. Das Datum des Briefes lag zehn Tage zurück. Sethos mußte vom Erfolg seiner Helfershelferin bereits erfahren haben; bestimmt hatte sie umgehend telegraphiert, zumindest vermutete ich das. Die Angriffe gegen uns hatten jedoch nicht aufgehört. Einer, möglicherweise auch zwei hatten stattgefunden, nachdem die Nachricht ihn erreicht haben konnte.
Die Schlange, das Krokodil und der Hund … In der kleinen Geschichte kamen keine anderen Unheilsboten vor. Wollte er womöglich wieder von vorne beginnen?
Vielleicht war es die Absurdität dieser Vorstellung, die mich wieder zu Verstand brachte. Vielleicht war es die Hoffnung, daß Ramses’ Plan Erfolg zeitigen würde – daß die Neuigkeit noch nicht bis zum Meisterverbrecher vorgedrungen war. Trotzdem konnte ich mich des Gedankens nicht erwehren, daß die Parallelen zu dem ägyptischen Märchen vielleicht doch auf mehr als bloßem Zufall oder übernatürlichen Einflüssen beruhten. Hatte der Verbrecher sich womöglich an die Vorlage gehalten? Hatte sich der Urheber des Komplotts vom »Märchen vom Verwunschenen Prinzen« inspirieren lassen?
Eine Reihe von Leuten hatte gewußt, daß ich mich mit dem Märchen beschäftigte. Mr. Neville fiel mir dabei als erster ein, er hatte es an jenem Abend in Kairo bei Tisch erwähnt. Viele unsere Freunde hatten dabeigesessen.
War Sethos unter ihnen gewesen?
Die Idee hatte in ihrer Verrücktheit etwas Reizvolles an sich. Vielleicht hatte sich dieser unheimliche Meister der Verkleidung von der Vorstellung herausgefordert gefühlt, in die Rolle eines so bekannten und auffälligen Menschen wie beispielsweise Reverend Sayce zu schlüpfen. Ich glaubte es jedoch nicht. Niemand hatte größeren Respekt vor Sethos’ Fähigkeiten als ich, aber ein solches Risiko einzugehen hatte er nicht nötig. In den Archäologenkreisen verfügte er über genügend geheime Verbündete und Helfershelfer. Vielleicht hatte ja einer unserer Gäste einem solchen Individuum von meinem Interesse an dem kleinen Märchen erzählt. Mit Bedauern mußte ich mir eingestehen, daß diese Spur nicht ergiebiger war als andere, die ich erwogen hatte. Sie führte zu genau dem Personenkreis zurück, den ich schon seit jeher verdächtigt hatte, den Meisterverbrecher mit Informationen zu versorgen: die Archäologen. Manche von ihnen hatten vielleicht in aller Unschuld Kenntnisse ausgeplaudert.
Jeder Hinweis entpuppte sich als Seifenblase, sobald ich nach ihm griff. Angesichts der Gewandtheit, mit der der bärtige Schurke die Injektionsnadel in Emersons Vene gestochen hatte, war mir eingefallen, daß er womöglich Arzt oder Krankenpfleger war. Doch diese Vermutung führte nun, da ich wußte, daß es sich bei der fraglichen Person um Sethos handelte, zu nichts. Schließlich hatte er schon häufig bewiesen, daß er mit dem Gebrauch und der Verabreichung der verschiedensten Drogen vertraut war. Außerdem fiel mir ein, daß sich die meisten Archäologen mit einfachen Erste-Hilfe-Maßnahmen auskennen, da sie oft gezwungen sind, Verletzungen zu versorgen, die bei der Arbeit entstehen.
Ein weiterer Ansatz, von dem ich anfangs gehofft hatte, er würde den Kreis der Verdächtigen einengen, erbrachte ebenfalls nichts. Die Offiziere des sudanesischen Expeditionscorps waren allesamt nicht im Sudan. Nach dem Fall von Khartum hatten viele von ihnen Urlaub bekommen. Im Foyer des Shepheard-Hotels war ich einem bekannten Gesicht begegnet. Ich hatte den Namen des Mannes vergessen, aber ich erinnerte mich nun, wo ich ihn kennengelernt hatte – bei General Rundle in Sanam Abu Dom. Sethos mußte also nicht zwangsläufig im Sudan gewesen sein, um von den Offizieren, die von unserer Expedition wußten, Auskünfte zu erhalten.
Vor lauter Enttäuschung schlug ich mit der Faust auf den Tisch. Flaschen und Krüge wackelten heftig; ein kleines Fläschchen
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