Amelia Peabody 07: Die Schlange, das Krokodil und der Tod
»Sie müssen nachsichtiger mit ihr sein.«
Ich weiß nicht, was Rose den Mut gab, zu sprechen. Für gewöhnlich murmelte sie nur ein ›Ja, Madam‹ und schiebt die Möbel umher. Ich kann ihre Freimütigkeit in diesem Fall nur auf eine dieser Vorahnungen zurückführen, die Mama und mich und offenbar auch andere Menschen gelegentlich heimsuchen.
Sie war immer noch sehr rot im Gesicht, doch sie nahm kein Blatt vor den Mund. »Entschuldigen Sie, Miss Evelyn, aber ich glaube, Sie sollten das wissen. Ständig schleicht und schnüffelt sie herum. Einmal habe ich sie erwischt, wie sie gerade aus Master Ramses’ Zimmer kam. Sie hat dort ja bekanntlich nichts verloren, Madam. Ich bin für das Zimmer von Master Ramses zuständig. Und was hat sie zu dieser nachtschlafenden Zeit draußen im Garten zu suchen, wenn ich fragen darf?«
Es war unheimlich, Mama und Papa, wie wir alle im selben Augenblick stutzten. Wir blickten einander an, und eine verrückte Vermutung schoß uns durch den Kopf. Nur, daß sie in Wirklichkeit gar nicht so verrückt war. Tante Evelyn ergriff als erste das Wort.
»Das Zimmer von Master Ramses, hast du gesagt, Rose? Was könnte sie dort gewollt haben?«
Ich schlug mir gegen die Stirn. (In Büchern habe ich gelesen, daß Leute das tun, doch ich habe da meine Zweifel – jedenfalls bestimmt nicht mehr als einmal.) »Spekulieren wir doch einmal drauflos!« rief ich. »Wie lange arbeitet Ellis schon bei dir, Tante Evelyn?«
Die darauffolgende Erörterung war sehr angeregt, und wir kamen einstimmig zu demselben Schluß. Ich war sehr ärgerlich, weil ich eine so offensichtliche Missetäterin nicht durchschaut hatte; indes stammte der folgende Plan, liebe Mama und lieber Papa, von mir.
»Lassen wir sie doch finden, was sie sucht!« rief ich. »Dann soll sie kündigen und ihren Fund mitnehmen, ohne den geringsten Verdacht, daß wir ihre Absichten durchschaut haben.«
Tante Evelyn und Rose überschütteten mich ob dieses Vorschlags mit solch schmeichelhaftem Lob, daß es mich ganz verlegen machte. Noch schmeichelhafter für mich war, daß sie mir zutrauten, eine glaubhafte Fälschung des fraglichen Dokuments anzufertigen; denn Ihr, liebe Mama und lieber Papa, wißt ja, das Original befindet sich in Papas … (die beiden letzten Worte waren durchgestrichen) … ist anderswo.
Ich machte mich sofort ans Werk. (Fälschungen herzustellen, ist eine faszinierende Beschäftigung. Ich habe es auf meine Liste der nützlichen Fertigkeiten gesetzt, die ich durch Übung vervollkommnen möchte.) Da ich wußte, daß der Anschein von Echtheit in diesem Fall von entscheidender Bedeutung war, benutzte ich ein Blatt aus Papas Notizbücher. (Dasjenige über die Ausgrabung in Dahshoor, das ich mir geholt hatte, um seine Rekonstruktion des Pyramidentempels zu studieren. Es gibt einige Punkte, die ich zu einem späteren Zeitpunkt gerne mit ihm erörtern würde.) Doch um fortzufahren: Ich mußte natürlich dafür sorgen, daß das Papier entsprechend alt aussah. Es bedurfte erst einiger Experimente, bevor ich die Lösung fand: ich buk das Papier im Herd, nachdem ich es an den Ecken ausgefranst und mit Wasser besprengt hatte. Dann pauste ich eine Kopie der Landkarte, an deren Umrisse ich mich noch gut erinnerte, auf ein anderes Blatt des Notizbuchs, und wiederholte die Prozedur. Das Resultat war überaus zufriedenstellend. Ich brauche Euch, liebe Eltern, nicht zu sagen, daß die Kompaßangaben, die ich eingetragen habe, nicht mit dem Original übereinstimmten. Auch habe ich einige andere Änderungen vorgenommen.
Die nächste Frage lautete: Wo das Dokument verstecken? Die Bibliothek erschien mir als der geeignetste Ort, aber wir kamen überein, daß es ratsam sei, Ellis Aufmerksamkeit direkt auf das Versteck zu lenken.
Ohne die begeisterte Mitarbeit von Rose und ihr bemerkenswertes schauspielerisches Talent hätte der Plan niemals Erfolg gehabt. Die Bibliothek gehört anscheinend ebenfalls zu dem Bereich, den zu betreten Ellis keinen Grund hat. (Ich glaube, Mama, Du wußtest das; mir war es nicht bekannt, und ich fand die Festlegung der jeweiligen Arbeitsdomäne und das gesellschaftliche Ansehen, das sich daraus ableitet, sehr interessant.) Mary Ann, das Stubenmädchen von Tante Evelyn, ist verantwortlich für die Bibliothek. Daher war es notwendig, Mary Ann aus dem Weg zu schaffen, denn sie ist absolut unfähig, sich zu verstellen. Und außerdem waren wir der Ansicht, daß es um so besser war, je weniger Menschen von unseren
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