Amelia Peabody 09: Ein Rätsel für Ramses
Naivität bezichtigt zu werden – besonders Männer nicht, die sich für weniger sentimental und für weltoffener halten als Frauen. Nefret hatte jedoch absolut recht. Emerson ist hoffnungslos naiv, was Frauen angeht. Und mich beschlich das unangenehme Gefühl, daß Nefret, genau wie Mrs. Jones und ich, genau wußte, warum Dolly Bellingham so entschlossen war, sich aufmerksamen Bewachern zu entziehen, die sie davon abhielten … das zu tun, was sie tun wollte.
Abrupt wandte sich Nefret ihrem Bruder zu. »Ramses weiß, wovon ich spreche.«
Ramses wirkte verwirrt. Mehr als ein unzusammenhängendes »Äh – hm – was?« brachte er nicht hervor. »Ich spreche von dem Abend, als sie dir weggelaufen ist, in die Ezbekieh-Gärten«, erklärte Nefret.
Cyrus, den Nefrets Vorwürfe noch härter getroffen hatten als Emerson, hatte sich wieder erholt. Kopfschüttelnd meinte er: »Wahrscheinlich haben Sie recht, Miss Nefret. Keine wohlerzogene junge Dame würde etwas so Törichtes tun, selbst wenn ihr die Gefahren nicht bewußt wären. Verdammt – entschuldigen Sie die Ausdrucksweise, meine Damen, aber ich stehe diesem Plan mittlerweile sehr kritisch gegenüber.«
»Und ich«, sagte Mrs. Jones, die interessiert zugehört hatte, »finde ihn um so reizvoller. Haben Sie keine Angst. Ich bin nun vorgewarnt und werde mit Miss Dolly schon fertig. Ich nehme an, daß Sie in erster Linie von mir erwarten, sie daran zu hindern, allein auszugehen, ob bei Tag oder bei Nacht.«
»Unsere zukünftigen Aktivitäten wären sicherlich einfacher, wenn wir uns darauf verlassen könnten«, sagte Ramses. »Es macht es vielleicht einfacher für Sie und auch für Mr. Vandergelt – zu wissen, daß David und ich uns in unmittelbarer Nähe auf der Amelia befinden. Wir könnten ein Signalsystem erarbeiten, so daß Sie uns in dem unvorhersehbaren Fall ein Zeichen geben können, wenn Sie Hilfe benötigen.«
Sie fuhren mit ihrer Diskussion fort, während Nefret Vorschläge machte und Cyrus, in brütendes Schweigen verfallen, zuhörte. Wie seine genaue Beziehung zu Mrs. Jones aussah, ging mich nichts an; es war mir klar, daß sein Interesse an ihr immerhin so ausgeprägt war, daß er sich um ihre Sicherheit sorgte, aber er besaß nicht die entsprechende Autorität, ihre Handlungen zu bestimmen.
Auch ich hatte ein Interesse an Mrs. Jones. Sie war der Typ Frau, den ich aufgrund einiger gemeinsamer Charaktereigenschaften sicherlich recht sympathisch gefunden hätte, wenn ihre Vergangenheit nicht so undurchsichtig gewesen wäre. Meine Bescheidenheit hält mich davon ab, diese Eigenschaften aufzuzählen, aber wer mit meinen Aktivitäten vertraut ist, sollte sie ohnehin kennen. Ich beschloß, nach einer Gelegenheit für ein privates Gespräch mit der Dame zu suchen, und fand sie, als wir uns zum Kaffee in den Salon zurückzogen. Nachdem wir unser Klavier bekommen hatten, entschied Cyrus, daß auch er eines haben müsse – den größten lieferbaren Flü gel überhaupt. Er war in seinen Einzelteilen angekommen, zusammen mit dem deutschen Fachmann, der ihn wieder zusammensetzte. Cyrus bat Nefret, etwas vorzuspielen, und drängte die anderen, seinen Gesang zu begleiten; und während er und Emerson ein mitreißendes Seemannslied grölten, nahm ich meine Kaffeetasse und Mrs. Jones mit in eine ungestörte Ecke.
»Ich kann mir nicht erklären, warum Sie das tun wollen«, fing ich an.
Die Wangen der Dame plusterten sich auf, so daß sie wieder den Gesichtsausdruck einer lächelnden Katze annahm. »Eine Sache, die ich an Ihnen bewundere, Mrs. Emerson, ist Ihre Direktheit. Allerdings kann ich nicht entsprechend reagieren. Meine Motive sind selbst mir nicht klar. Neugier ist jedoch sicherlich eins davon.
Ich könnte nicht einfach verschwinden, ohne zu erfahren, auf welche Weise sich diese seltsame Geschichte aufklärt – wenn überhaupt.«
»Oh, ich habe alle Hoffnung, daß sie aufgeklärt wird.
Wir sind schon mit ähnlich schwierigen Fällen konfrontiert gewesen.«
»Das hat mir Mr. Vandergelt erzählt. Sie genießen die Herausforderung, stimmt’s? Genau wie ich. Das ist ein weiteres Motiv, vermute ich: ich habe schon mit einigen schwierigen jungen Frauen zu tun gehabt, aber noch nie saß mir die Hand so locker wie bei Dolly Bellingham.« Ich mußte lachen. »Sie hatten selbstverständlich recht, was das Mädchen angeht. Sie braucht nicht nur einen Ehemann, sondern einen, der sie, falls notwendig, auch verprügelt.«
Als ich die Veränderung ihres
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