Amelia Peabody 09: Ein Rätsel für Ramses
Das Hotel befand sich ein Stück entfernt vom Flußufer, und sie kamen nur langsam voran, da sie ständig von Freunden und Bekannten aufgehalten wurden, die ihnen ein Gespräch aufzwingen wollten. Als sie das Luxor schließlich erreicht hatten, war es bereits dunkel. Ramses marschierte zur Rezeption und sprach mit dem Bediensteten. Dann setzten sich die beiden jungen Männer in die Halle und erwarteten eine Reaktion auf ihre Mitteilung.
»Ich begreife immer noch nicht, warum du deiner Mutter nichts von deiner Absicht erzählt hast, Mrs. Fraser aufzusuchen«, sagte David. »Schließlich ist sie doch eine Freundin der Familie, oder etwa nicht?«
Ramses schob sein Kinn vor, und dieser mißfällige Gesichtsausdruck war seinem Freund bestens bekannt. »Mrs. Frasers erster Brief war an mich adressiert. Sie hat mich an ein Versprechen erinnert, das ich ihr einmal gegeben hatte. Ein Herr reagiert persönlich auf die Bitte einer Dame. Er läßt nicht zu, daß seine ›Mama‹ das für ihn erledigt.«
»Ah«, meinte David.
Ramses fuhr in fließendem Arabisch fort, das ihm ebenso geläufig war wie David, dessen Muttersprache es gewesen war. »Du solltest es von allen Leuten doch am besten verstehen. Wie ist es denn für dich, von meiner Mutter und von meiner Tante wie ein Kind behandelt zu werden – wo du doch bereits wie ein Mann gearbeitet und auch eine entsprechende Verantwortung getragen hast?«
»Sie mögen mich«, sagte David schlicht. »Vorher hat mich noch nie jemand gemocht.«
Diese Äußerung ließ Ramses nicht ungerührt, aber schließlich besiegte seine Verärgerung doch jegliche Sentimentalität. »Ich mag sie auch. Ich liebe meine Mutter, aber wenn sie von meinen Absichten gewußt hätte, hätte sie darauf bestanden, daß ich ihr die Sache überlasse. Du weißt doch, wie sie ist, David; es gibt auf Erden keine Frau, die ich mehr bewundere als sie, aber sie kann so extrem …« Der arabische Begriff, der darauf folgte, ließ David entsetzt zusammenfahren, doch dann begriff er, daß dieser nicht Ramses’ Mutter gegolten hatte.
Ramses unternahm den vergeblichen Versuch, sich hinter einer Topfpflanze zu verstecken, aber es war bereits zu spät. Die Bellinghams, die auf dem Weg vom Aufzug zum Speiseraum waren, hatten sie bemerkt.
Dolly, in blaßblaue Seide gehüllt und mit Diamanten und Saphiren behängt, sah aus, als hätte sie sich für einen Ballbesuch herausgeputzt. Blaue Bänder waren in ihre silbrige Haarpracht eingeflochten worden. Ihre behandschuhte Hand ruhte auf dem Arm ihres Vaters, der ebenfalls Abendgarderobe trug und sich auf einen Spazierstock mit goldenem Knauf stützte. Die dritte Person dieser Gruppe war ihnen unbekannt – eine grauhaarige, schlicht gekleidete Frau. Sie wirkte, so dachte Ramses mitfühlend, ziemlich devot.
Der Colonel ließ die unbekannte Frau mitten in der Halle stehen und steuerte mit Dolly im Schlepptau geradewegs auf Ramses und David zu.
»Guten Abend«, sagte er und verbeugte sich vor Ramses.
»Guten Abend«, erwiderte Ramses stirnrunzelnd.
Bellingham warf einen Blick auf seine Tochter, die sich bei ihm eingehakt hatte. »Dolly hat mir erzählt, was in jener Nacht in Kairo passiert ist. Ich gebe zu, daß ich verärgert war, weil ich glaubte, Sie hätten sie dazu überredet, in die Gärten zu gehen, aber sie hat mir zu verstehen gegeben, daß Ihre ungewöhnliche Erziehung in hohem Maße für das Mißverständnis verantwortlich war, da Sie keine Erfahrung im Umgang mit Südstaatenschönheiten haben.«
Ramses warf Dolly einen wütenden Blick zu. Sie hatte ihren spitzenbesetzten Fächer geöffnet und verbarg damit ihren Mund. Mit riesigen unschuldigen Augen erwiderte sie seinen Blick.
»Und«, der Colonel fuhr fort, »der Mut, den Sie zu ihrer Verteidigung eingesetzt haben, entschuldigt selbstverständlich Ihr ungebührliches Betragen.«
»Danke«, sagte Ramses mit erstickter Stimme.
»Keine Ursache. Wir sind auf dem Weg zum Abendessen. Vielleicht erweisen Sie uns die Ehre, uns zu begleiten?«
»Ich fürchte, wir müssen das auf ein anderes Mal verschieben«, sagte Ramses.
Der Colonel nickte und löste sich von seiner Tochter. »Geh schon einmal mit Mrs. Mapplethorpe vor, mein Kind. Ich geselle mich in wenigen Augenblicken zu euch.«
»Ja, Papa. Guten Abend, Mr. Emerson. Ich hoffe, ich finde vielleicht irgendwann einmal die Gelegenheit, meine Dankbarkeit noch expliziter auszudrücken.« Sie reichte ihm ihre behandschuhte Hand – zum Kuß, wie er aufgrund ihrer
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