Amelia Peabody 10: Die Hüter von Luxor
dazu diente, meine Beherrschung wiederzuerlangen, dennoch blickte sie mich ängstlich an. »Ich wußte nicht, ob ich hereinkommen sollte. Eine ganze Weile hatte ich bereits vor der Tür gestanden, weil ich mir nicht sicher war, ob du mich sehen wolltest.«
»Du bist mir die liebste Tochter, natürlich wollte ich das.«
Das rührte sie erneut zu Tränen, und ich weinte ebenfalls, bis ich meine Schubladen nach einem weiteren Taschentuch durchforsten mußte. Nachdem ich meine verweinten Augen gekühlt und mein Haar geglättet hatte, gingen wir gemeinsam in den Salon. Ramses und Emerson waren dort, und David richtete Speisen auf einem Teller an und brachte mir diesen. Wir unterhielten uns über Belanglosigkeiten, da alles Wesentliche immer noch viel zu qualvoll gewesen wäre.
»Es tut mir leid um diese Schule«, sagte Nefret. »Vermutlich wird sie jetzt geschlossen.«
»Mrs. Vandergelt könnte sie übernehmen«, schlug Ramses vor.
»Eine hervorragende Idee«, sagte ich. »Wissen sie … Sind Cyrus und Katherine darüber informiert, was passiert ist?«
David antwortete. Seine Augen waren rot vom Weinen, dennoch wirkte er recht gefaßt; und ich stellte fest, daß er reifer und selbstbewußter geworden war. »Ich habe ihnen geschrieben. Sie haben daraufhin geantwortet, daß sie heute abend dort sein wollen.«
»Gut.« Ich schob meinen unangerührten Teller beiseite und erhob mich. »David, würdest du mich bitte begleiten? Ich möchte dir etwas sagen.«
Aus Briefsammlung B
… da siehst du es, Lia-Schätzchen, alles wird gut werden! Tante Amelia wird deinen Eltern schreiben, und ich zweifle keine Sekunde lang, daß sie genau das tun werden, was sie vorschlägt.
Weine nicht um Abdullah. Hätte er sich seinen Tod aussuchen können, hätte er ihn exakt so gewollt. Sei dankbar, daß du ihn – wenn auch nur kurz – kennenlernen durftest, und freue dich mit uns, daß ihm Krankheit und langes Leiden erspart geblieben sind.
Ich denke, du hättest die Beerdigung trotz ihrer Befremdlichkeit als anrührend empfunden. Der Trauerzug wurde von sechs armen Männern angeführt, von denen einige blind waren (was in diesem Land keine Seltenheit ist, da Augenkrankheiten sehr verbreitet sind) und die das Hohelied sangen: »Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist sein Prophet; Gott schütze und erlöse ihn!« Abdullahs Söhne und Neffen und Enkel folgten, und dann kamen drei Jungen, die eine Kopie des Korans trugen und mit ihren hohen, jugendlichen Stimmen ein Gebet oder einen Vers über das Jüngste Gericht vortrugen. Die Worte sind sehr klangvoll. Ich kann mich nur noch an einige Zeilen erinnern: »Ich lobpreise Seine Vollkommenheit, Er, der alles erschaffen hat. Wie mildtätig Er ist! Wie gnädig Er ist! Wie großartig Er ist! Selbst wenn sich ein Diener gegen Ihn erhebt, hält Er Seine schützende Hand über ihn.«
Der Professor und Ramses gehörten zu diesen Auserwählten, die die Totenbahre tragen durften, auf der der Leichnam, bekleidet mit seinem besten Gewand, ruhte. Er war noch nicht eingesargt. Fatima und Kadija und die weiteren weiblichen Familienmitglieder folgten als nächste. Der Rest von uns schloß sich ihnen an. Die Vandergelts waren natürlich dort und Mr. Carter und Mr. Ayrton und sogar Monsieur Maspero! Das fand ich sehr nett von Maspero. Glücklicherweise war der Professor zu sehr damit beschäftigt, ein feierliches Gesicht aufzusetzen, als daß er eine Auseinandersetzung mit ihm hätte beginnen können. Wie Abdullah darüber gelacht hätte!
Nach dem Trauergottesdienst in der Moschee gingen wir zum Friedhof und wohnten seiner Beisetzung bei. Ich werde dich dorthin führen, wenn du nach Ägypten zurückkommst. Es ist ein schönes Grab, das seinem hohen Ansehen gerecht wird. Die gewölbte Grabkammer aus Nilschlammziegeln ist unterirdisch, und darüber befindet sich ein kleines Monument, das Schahid genannt wird. Ich nahm Tante Amelia beiseite, bevor sie die Öffnung zuschütteten und den Grabhügel mit Steinen bedeckten. Ich denke, daß ihr bis zum Schluß nicht bewußt war, wie sehr sie ihn schätzte und er sie. Hat nicht irgendwann einmal jemand behauptet, daß eine Frau vermutlich von den Männern akzeptiert wird, die sie so sehr lieben, daß sie für sie sterben würden? (Falls das nicht der Fall ist, dann behaupte ich, es stamme von mir.) Wie ist es dann bei Tante Amelia?! Der Professor (natürlich), ein Meisterverbrecher und ein edelmütiger Ägypter – denn das war er mit Leib und Seele.
Und
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