Amelia Peabody 10: Die Hüter von Luxor
bedauerlich.« Nefret beugte sich vor. »Der Professor ist der beste Exkavator Ägyptens. Und er verschwendet seine Talente auf diese langweiligen, kleinen Gräber.«
Bewundernd musterte Maspero ihre großen blauen Augen und die hübsch geröteten Wangen – doch dann schüttelte er den Kopf. »Mademoiselle, niemand bedauert das mehr als ich. Niemand schätzt die Fähigkeiten von M. Emerson mehr als ich. Es ist allein seine Entscheidung. In Ägypten befinden sich Hunderte weiterer Ausgrabungsstätten. Sie stehen zu seiner Verfügung – mit Ausnahme der im Tal der Könige.«
Nachdem wir noch eine Weile geplaudert hatten, brachen wir auf und erhielten zum Abschied weitere Handküsse.
»Verflucht«, sagte Nefret, während wir auf den Mumiensaal zusteuerten, in dem wir die anderen treffen wollten.
»Hör auf zu fluchen«, entfuhr es mir automatisch. »Ich habe nicht geflucht. Was für ein eigensinniger alter Mann dieser Maspero doch ist!«
»Es ist nicht allein sein Fehler«, gestand ich. »Er hat natürlich übertrieben, als er behauptete, daß Emerson jedes andere ägyptische Ausgrabungsgebiet übernehmen könnte. Eine ganze Reihe von ihnen sind bereits vergeben, doch es gibt auch noch andere, sogar im Umkreis von Theben. Es ist lediglich Emersons verfluchte Hartnäckigkeit, die uns an diese langweilige Aufgabe bindet. Wo zum Teufel steckt er jetzt schon wieder?« Wir fanden ihn schließlich dort, wo ich ihn auch erwartet hatte – finster über den Ausstellungsstücken brütend, die Maspero Mr. Davis’ Entdeckung zugeschrieben hatte oder, um genau zu sein, der Entdeckung Mr. Quibells, der die Ausgrabungen damals überwacht hatte. Es handelte sich um eine Grabstätte, die bis in die Neuzeit verborgen geblieben und deren Schätze fast vollständig erhalten waren. Natürlich waren die Grabbeigaben nicht so kostbar wie die von uns in Königin Tetisheris Grab gefundenen. Juja und Thuja waren bürgerlich gewesen, doch ihre Tochter, die Hauptfrau des berühmten Amenophis III., war eine Königin, und unter ihren Grabbeigaben befanden sich mehrere Geschenke der Familie des Pharaos.
»Ah, hier bist du also, mein Lieber«, sagte ich. »Hoffentlich haben wir dich nicht zu lange warten lassen.«
Emerson war so übler Laune, daß er meinen Sarkasmus gar nicht bemerkte. »Weißt du, wie lange Davis für die Exkavation dieses Grabes benötigte? Drei Wochen! Wir haben drei Jahre für Tetisheri gebraucht! Da fragt man sich doch …«
Ich unterbrach sein Donnerwetter. »Ja, mein Lieber, ich bin völlig deiner Meinung, aber jetzt möchte ich zum Mittagessen. Wo sind Ramses und David?«
»Sie wollten sich die Papyri ansehen«, sagte Emerson. Er deutete eine vage Handbewegung in Richtung des Eingangs an. Obwohl M. Masperos Organisationsmethoden viel zu wünschen übrigließen, hatte er einen Großteil der Papyri in einem einzigen Raum zusammengefaßt. Verzückt bestaunten Ramses und David einen der kostbarsten – den Begräbnis-Papyrus einer Königin der 21. Dynastie.
»Totenbuch« ist ein moderner Begriff; die antiken Sammlungen mit magischen Beschwörungen zum Schutz vor den Gefahren der Unterwelt, welche die Toten erlöst in die Ewigkeit überführten, trugen unterschiedliche Namen: »Buch der Geschicke der Unterwelt«, »Buch zu den Pforten der Unterwelt«, »Buch der Wiedergeburt« und so fort. In bestimmten Zeitperioden wurden diese Schutzgebete in die Holzsärge oder die Grabwände eingeritzt. In späteren Epochen wurden sie auf Papyri geschrieben und mit bezaubernden kleinen Bildern versehen, die die verschiedenen Stadien der Toten auf ihrem Weg in die Ewigkeit illustrierten. Die Länge einer solchen Schriftenrolle und damit ihre Schutzfunktion hing von der Finanzkraft des Käufers ab. Ja, selbst die Unsterblichkeit war käuflich, doch wir sollten nicht die Nase über diese naiven Heiden rümpfen, werte Leser. Die christliche Kirche des Mittelalters verkaufte ebenfalls Ablässe und Gebete für die Toten, und befinden sich nicht immer noch solche unter uns, die religiöse Einrichtungen in der Erwartung frequentieren, daß ihnen damit »Vergebung« für ihre Sünden gewährt wird?
Aber ich schweife ab. Wesentlich wichtiger ist in diesem Zusammenhang die Bestimmung der Herkunft gewisser Papyri. Sie wurden mit den Toten bestattet, manchmal an der Seite oder zwischen den Beinen der Mumie. Besagter Papyrus, den die Jungen gerade begutachteten, stammte aus dem königlichen Versteck in Dair al-Bahri. Die Mumien einer ganzen
Weitere Kostenlose Bücher