Amelia Peabody 10: Die Hüter von Luxor
Das jetzt sichtbare Stück zeigte das gleiche Thema wie der im Museum ausgestellte Papyrus – die Bürde der Seele –, aber die vorliegende Illustration war wesentlich detaillierter und kunstfertiger. Die schlanke Gestalt der Verschiedenen zeichnete sich unter ihrem reinweißen Leinengewand ab. Vor ihr stand die Waage mit ihrem Herzen – dem Sitz des Verstandes und des Gewissens – in der einen Waagschale und in der anderen die Feder der Göttin Maat, welche Wahrheit, Gerechtigkeit und Ordnung verkörperte. Das sich an einen Schuldspruch anschließende Schicksal klang in der Tat grausam: von Amnet, dem Verschlinger der Seelen, dem Ungeheuer mit dem Krokodilskopf, dem Löwenkörper und dem Hinterteil eines Nilpferds, verspeist zu werden.
»Natürlich trat das nie ein«, sagte Ramses. »Der Papyrus sorgte schon für einen positiven Ausgang, nicht nur, weil er allein dazu diente, sondern auch …«
»Ich habe keine Lust auf einen Vortrag in ägyptischer Mythologie«, sagte Nefret. »Diese Schriftenrolle entspricht dem Papyrus der Königin, aber er ist sehr viel umfangreicher und handwerklich feiner gearbeitet.«
»Er ist zweihundert Jahre älter«, meinte David. »19. Dynastie. Papyri aus dieser Epoche sind heller und weniger brüchig als die späteren Exemplare. Ich glaube nicht, daß wir ihn beschädigt haben, aber Ramses hat recht, wir müssen ihn verschließen und dürfen ihn nicht weiter aufrollen.«
»Darüber denke ich gerade nach«, sagte Ramses. »Wie meinst du das?«
»Normalerweise würde ich dem zustimmen, daß er so wenig wie möglich angerührt werden sollte. Allerdings werde ich das Gefühl nicht los, daß ihn jemand zurückhaben möchte. Für den Fall, daß ihm das gelingt, sollten wir ihn vorher kopieren.«
»Unsinn«, warf Nefret ein. »Es ist jetzt drei Tage her, und niemand hat uns bislang verfolgt.«
»Außer dem Schwimmer, den Mohammed vorgestern nacht bemerkte.«
»Das hat sich Mohammed nur eingebildet. Oder erfunden, um damit zu beweisen, daß er wachsam und aufmerksam ist, nachdem ihn der Professor während seines Dienstes schlafend vorfand.«
»Schon möglich. Egal, ich denke, wir müssen es riskieren. David, wie lange würde es dauern, bis du die Rolle fotografiert hast?«
Bestürzt starrte ihn David an. »Stunden! Tage, wenn ich gute Arbeit leisten soll. Was sollte ich als Dunkelkammer benutzen? Wie können wir verhindern, daß Tante Amelia etwas bemerkt? Was ist, wenn ich den Papyrus beschädige? Wie …«
»Die Feinheiten lassen sich sicherlich klären«, sagte Nefret, die diese Schwierigkeiten mit der ihr eigenen Unbekümmertheit ausräumte. »Ich werde dir helfen. Woher stammt er deiner Meinung nach? Ursprünglich, meine ich.«
»Aus Theben«, erwiderte Ramses. »Sie war eine Prinzessin – eine der Töchter von Ramses II. Wo in Theben, lautet die exakte Frage.«
»Aus dem königlichen Versteck?« warf David ein.
»Dair al-Bahri?« Nefret starrte ihn an. »Aber der Inhalt dieser Grabstätte wurde bereits vor Jahren fortgeschafft.
Die Mumien und Kunstgegenstände befinden sich im Museum.«
»Nicht alle.« David setzte den Deckel auf das Behältnis. »Du kennst die Geschichte, Nefret. Bevor sie gefaßt wurde, verkaufte die Abd-er-Rassul-Familie eine Reihe von Gegenständen an Händler und Sammler. Von daher ist es möglich, daß nicht alle Objekte erfaßt wurden.« »Mit absoluter Sicherheit wurden einige nicht erfaßt«, sagte Ramses.
Eine kurze Gesprächspause entstand. Dann sagte Nefret aufgebracht: »Warum sagst du nicht, was du denkst? Sethos war im Geschäft, als die Abd er Rassuls heimlich die Objekte aus dem königlichen Versteck verkauften. Einmal angenommen, einer der von ihm erworbenen Gegenstände war der Papyrus der Prinzessin …« »Diese Möglichkeit kam mir natürlich auch schon in den Sinn«, sagte Ramses.
»Natürlich!« Nefrets Stimme troff vor Sarkasmus.
»Hast du gedacht, daß ich bei der Erwähnung dieses Namens in Ohnmacht falle oder laut kreische?«
»Es war lediglich eine Möglichkeit, weiter nichts. Wir haben mit jedem Händler in Kairo geplaudert und nicht den winzigsten Hinweis gefunden, daß der Meister, wie sie ihn nennen, zurückgekehrt ist. So etwas ließe sich nicht verheimlichen; man weiß vielleicht nicht, wo sich der Körper versteckt hält, aber der Geruch ist nicht zu verfehlen.«
»Welch elegante Metapher«, bemerkte Nefret.
»Wir hätten ihn nicht verfehlt«, beharrte Ramses. »Und dann ist da immer noch die Tatsache, daß
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