Amelia Peabody 10: Die Hüter von Luxor
habe ihn davon abgehalten. Er hat ihn nicht bekommen. Außerdem hätte ich ihn dingfest gemacht, wenn du nicht hier hereingeplatzt wärst.«
»Oh, ja, selbstverständlich«, sagte Ramses. »Womit denn, mit einem Haarband?«
»Ich hatte mein Messer. Nachts verwahre ich es immer unter meinem Kissen.« Sie deutete auf die Blutlache am Boden. »Das ist nicht ausschließlich von mir. Ich stach ihm in den Arm, um ihn davon abzuhalten, die Schatulle anzurühren, weißt du – ich hatte Angst, daß er sie fallen ließe, sobald wir kämpften. Und dann wich er zurück, und ich stand auf und bin ihm nach, und er …«
»Nahm den Kampf auf?« David starrte sie entsetzt an. »Du bist ihm nach? Um Himmels willen, Nefret! Ramses hat recht, du handelst verflucht impulsiv. Warum hast du nicht um Hilfe gerufen?«
»Dafür blieb keine Zeit. Ich wehrte seinen Schlag ab, wie es mir Ramses beigebracht hat, aber vermutlich war ich nicht schnell genug. Es ist nur ein kleiner Kratzer«, fügte sie abwehrend hinzu. »Aber ich bin in dem Blut am Boden ausgerutscht. Dann brach Ramses die Tür auf, und der Mann entkam.«
»Du hast ihn nicht erkannt?« fragte Ramses, ihren unterschwelligen Vorwurf ignorierend.
»Ich konnte ihn kaum erkennen. Es war dunkel, und er trug einen Schal um seinen Kopf gewickelt. Es hätte Yussuf Mahmud sein können. Größe und Statur waren identisch.«
»Ein ganz gewöhnlicher Dieb«, fing David an.
»Nein«, erwiderte Ramses. »Gelegenheitsdiebe tragen keine Messer oder benutzen sie nicht – zumindest nicht im Umgang mit der Familie des gefürchteten Vaters der Flüche. Ihm ging es ausschließlich um den Papyrus. Das ist ein weiterer interessanter Punkt. Woher wußte er, daß er in Nefrets Zimmer war? Kein anständiger Gentleman würde ein solch möglicherweise gefährliches Objekt einer armen, schwachen kleinen Frau überlassen.«
»Haha«, sagte Nefret.
»Haha, in der Tat. Nefret, bist du sicher, daß du niemandem auch nur irgend etwas erzählt hast? Vielleicht versehentlich … Nein, selbstverständlich nicht.«
»Das ist verflucht wahr.«
Vielleicht hatte sie wirklich versehentlich etwas geäußert – gegenüber einem Mann, der die richtigen Fragen stellte. In den vergangenen Tagen hatte sie Sir Edward häufig gesehen … Ihm war klar, daß er diese Theorie unter gar keinen Umständen auch nur andeuten durfte. »Ruh dich aus, Nefret. Wir werden uns morgen früh umsehen.«
»Ich werde das Blut aufwischen«, erbot sich David. »Wir wollen doch nicht, daß Tante Amelia etwas bemerkt, oder?«
»Mach dir keine Mühe«, sagte Ramses. »Ich kann mir zwar nicht vorstellen, warum Mutter noch nicht auf der Bildfläche aufgetaucht ist – wie das normalerweise der Fall ist –, aber sie wird mit Sicherheit die aus den Angeln gerissene Tür bemerken und Nefrets verbundenen Arm und … Und wir dürfen auch nicht länger schweigen.«
»Ach, du meine Güte«, murmelte Nefret. »Der Professor wird toben.«
»Zweifellos. Und Mutter wird uns eine Strafpredigt halten. Im großen und ganzen ziehe ich Vaters Tobsuchtsanfälle vor.«
»Dann werden wir es ihnen morgen sagen.« Nefret erhob sich.
»Gute Nacht.«
Sie entwand sich Davids stützendem Arm und folgte ihnen zur Tür. »Ramses«, sagte sie.
»Ja?«
»Wieso warst du so schnell hier? Ich habe doch erst geschrien, als er mir den Arm aufschlitzte, aber da mußt du bereits vor meiner Tür gestanden haben.«
»Irgend etwas hat mich geweckt. Vielleicht hat er irgendwelche Geräusche verursacht, als er durch das Fenster einstieg.«
Ein Fenster in der aus Lehmziegeln bestehenden Außenwand auf der gegenüberliegenden Seite ihres Zimmers. Glücklicherweise fiel ihr diese Ungereimtheit nicht auf. »Es tut mir leid, wenn ich grob zu dir gewesen bin«, sagte sie. »Nicht mehr als üblich.«
»Danke, daß du da warst, als ich dich brauchte, mein Junge.« Sie lächelte ihn an und legte zärtlich ihre Hand auf seinen Arm. Ramses trat einen Schritt zurück.
»Nicht der Rede wert.«
»Sei doch nicht gleich eingeschnappt. Ich hab’ doch gesagt, daß es mir leid tut.«
»Ich bin nicht eingeschnappt. Gute Nacht, Nefret.« Er ließ David, der sich um die beschädigte Tür kümmern wollte, bei ihr zurück und ging hinaus. Der Tradition eines Lord Byron folgend, hätte er – stirnrunzelnd und seufzend – unter ihrem Fenster auf und ab schreiten müssen, aber er wollte keineswegs das Risiko eingehen, Fußspuren oder andere Hinweise zu zerstören; deshalb setzte er sich
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